: Innenansicht Schule: Antreten zum Lernen
■ Der Vormittag des 3. Januar 1990 in der Klasse 6 b einer Rostockeer Schule / “...die jungen Menschen zu schöperischem Denken befähigen“
Ja, ich bin aus der Partnerstadt Bremen, Journalistin, und möchte gern einfach diesen Morgen der Klasse 6b durch ihren Unterricht folgen. Weil Björn, der Sohn der Familie A., bei der ich wohne, in der Klasse ist und weil ich selber einmal Lehrerin war und mich das besonders interessiert.
Auf der anderen Seite des Schreibtisches sitzt der Direktor der allgemeinen Polytechnischen Oberschule in der Rostocker Altstadt. Seine verarbeiteten Hände sehen weniger nach Papieren und Zensieren als nach Schattenökonomie aus, Schreinern, vielleicht auch Erdarbeiten. Er ist kleiner als ich, im Stehen, auch etwas weniger unbefangen, aber mindestens ebenso freundlich. Partnerstadt, ganz verstehbar, Motivation bei so einer Angelegenheit immer von großer Bedeutung für die Entscheidung, die zu treffen zwar auch höhere Instanzen, aber auch er befugt sei und da sei die Motivation, wie so ein Wunsch zustande komme, schon sehr wichtig....
Ich komme mir auf einmal vor
wie die Schulaufsicht oder sonstjemand unangenehm Kontrollettihaftes, eine, die man aber leider nicht herauskompimentieren kann. Der Mann redet und redet, es klingelt zur Stunde, ja, wegen der Unvorhergesehenheit der Angelegenheit und der Notwendigkeit einer Vorbereitung der Lehrpersonen und weil er in einer anderen Angelegenheit jetzt tätig werden muß, die auch sehr konfiktreich... Ja, aber es klingelt doch grade erst, ich kann mich auch gern selber vorstellen und die Lehrerin fragen, ob es ihr recht ist...neinnein, die Entscheidung obliege schon ihm, aber jetzt sei es zu spät, und die stellvertretende Direktorin, Frau E., würde sich kümmern können, allerdings erst zur nächsten Stunde, das wäre dann die vierte, wenn ich dann bitte noch einmal wieder kommen könne. Der Direktor ist noch der gleiche wie ehedem.
Eine Stunde später. Frau E. geht mit mir die Treppen bis zum obersten, neu ausgebauten Stockwerk hinauf zu 6 b. Ob die kleinen Kinder, die man sehe, organisatorisch zur gleichen Schule gehö
ren? Ja, die Schule umfaßt die Klassen 1 bis 10. Zwischen uns ist die gleiche angespannte Freundlichkeit wie vorher mit dem Direktor. Während der redete, scheint sie eher die Luft anzuhalten. Ein Kind kommt uns von oben entgegen. Hier wird nicht gesprungen, sondern gegangen! sagt Frau E. und hält das Kind am Ellbogen fest. Das Kind nickt stumm.
Russisch
Klassenraum. Stühle hintereinander, die äußerste Stuhlreihe U-förmig angeordnet, so daß die SchülerInnen sich sehen können. 4. Stunde, Russisch. Die Kinder wissen schon von Björn, wer ins Haus steht, bleiben neugierig bei uns am Eingang stehen. Der Lehrerin entgleisen nach Frau E.s Eröffnung die Gesichtszüge. Bleiben Sie denn auch hier, frage ich, als ich hinter der Stellvertreterin nach hinten auf die beiden Stühle in der Mitte des großen Us zugehe. Sie bleibt und legt vor sich ein Buch auf den Tisch, auf dem Hospitation steht. Dann fordert sie zwei Mädchen auf, je ein halb
fingernagelgroßes Papier schnipselchen vom makellosen Fußboden aufzuheben. Die Lehrerin schreibt Formen an die Tafel, klappt sie zu, wendet sich zur Klasse. Die Schüler stehen auf, die Lehrerin wartet, guckt Krummstehende, sich Bewegende, Brabbelnde so lange an, lange, bis sich nichts mehr rührt. Ein flachsblondes Mädchen stellt sich neben ihr auf und spricht nicht sehr deutlich: Ich melde, Klasse 6b ist zum Unterricht bereit.„ Die Lehrerin sagt auf Russisch, was wohl guten Morgen heißt, die Klasse antwortet ebenso. Setzen.
Was hast Du zu Weihnachten geschenkt bekommen? Frage und Antwort auf Russisch. Das Russisch klingt von beiden Seiten wie Esperanto. Die Kinder verstehen nicht. Die Lehrerin wiederholt x-mal. Danach die Tafel aufgeklappt. Welche von den beiden angeschriebenen Formen ist die vollendete, welche die unvollendete sei. Die Klasse grübelt. 50 % Chance für eine richtige Antwort bei komplettem Nichtwissen. Die Lehrerin fragt Beate. Die vollendete sei die - Zögern linke. Wer findet das auch? Alle heben die Hände. Wer findet das nicht? Keine/r. Leider war die rechte die vollendete. Die Beschämung ist gering. Die Schüler grinsen verschmitzt.
Buch auf. In Moskau wird eingekauft. Einen Satz vorlesen. Einen frei sagen. Einen Lesen. Es ist tödlich. Dieses Buch auf, Aufgabe 2 a bis c, erst mündlich, dann schriftlich. Nicht einmal ein Methodenmuffel, wie ich es war, hätte das einer 6. Klasse zugemutet, und dann noch 6 Stunden. Tödlich. Jede Bremer Orientierungsstufe wäre längst über Tisch und Bänke. Die hier nicht, die ständigen Ermahnungen („Das ist nicht komisch, bitte nimm Dich zusammen“, „Markus, bitte!! „,„Du sitzt immer noch nicht ordentlich“) hören sie geduldig, aber unerschüttert an, machen allenfalls mal ein bißchen lustige Augen. Mich hält nur der Adlerblick von Frau E. wach. Die erklärt mir leise, daß die mangelnde Disziplin der geduldigen Lämmer ringsum auch mit den Fähigkeiten der Lehrerin zusammenhänge. Zwischendurch ruft sie die Umsitzenden zur Ruhe.
Es wird, auch in dieser Schule, heftig diskutiert, ob Russisch abgeschafft oder um 50 Prozent halbiert werden soll. Ein Lehrer, den wir in der Pause im Lehrerzimmer treffen, auf meine harmlose Bemerkung, daß Russisch mit seinen sechs Fällen auch so schwer ist, wie aus der Pistole geschossen: Das soll mir mal jemand beweisen, daß Englisch einfacher ist. Holla.
Man kann hier Russisch einfach nicht anwenden, sagt die
Mutter von Björn, niemand spräche es. Bloß in Finsterwalde hätten sie mal neben einer russischen Familie gewohnt. Irgendwie ist die Sprache unserer amerikanischen Besatzungsmacht erfolgreicher gewesen, lerne ich. Selbst wer die Amikultur nicht mag, Englisch wird mit der Fernseh- und Musimuttermilch aufgesogen, auch die, die es nicht können, können es.
Nach der Stunde gehen die Klasse und Frau E. und ich Mittagessen. Ob sie denn weiter auf mich aufpassen wolle, frage ich Frau E., sonst könne ich auch gern allein zu den folgenden LehrerInnen gehen. Frau E. schnappt augenblicklich ein, läßt aber von mir ab. Ihr gegenüber nimmt der andere Direktor-Stellvertreter Platz. Er scherzt: Du wirst ja ganz rot, vor allem unten, wo der Pullover ist. Frau E. trägt einen roten Pullover. Töne nicht wie bei uns aus dem Lehrerzimmer, sondern aus der Behördenkantine. Ja, beantwortet er meine Frage nach Stundenermäßigung für die Stellvertreter, sie unterrichteten statt 24 Stunden 19. „Aber wir haben immer dafür Sorge getragen, daß der Kontakt zur Basis nie abreißt.“ Die Basis sind die Schüler.
Danach Mathematik
Aufstehen, Appell. Die Lehrerin eröffnet mit dem Hinweise, es gelte, daß die Klasse die selbstgestellten Aufgaben bis Jahresende erfülle, vor allem Michael und Markus und die Klasse ihnen dabei helfe. Dann Rechnen mit Dezimalbrüchen. Wieder erklären, Buch auf, Aufgabenrechnen, wo ist der Rand, Buch zu, nur mit dem Unterschied, daß die Lehrerin streng -spröde aber spürbar interessiert an ihren Kindern und von denen anerkannt ist.
Sie läßt sich in der Pause bereitwillig ausfragen, schließt den Chemiesaal auf, fragt zurück, das erstemal ist es nicht, als käme der böse Feind Informationen sammeln, die man ihm leider nicht mehr verwehren kann. Nein, den Appell zu Beginn findet sie in Ordnung. Was anders geworden sei seit der Wende? Das ganze Klima, am Sonnabend kein Unterricht mehr, und die Schüler hätten durchgesetzt, daß sie selber in die Schule gehen dürften und nicht mehr morgens im Hof antreten. Durchgesetzt durch wen? Durch die FDJ. Die hält sie als Vertretungsorgan für ausreichend.
Ich frage nach den Prämien, die Lehrer bekommen, wenn sie niemand sitzen lassen. Nein, das gäbe es längst nicht mehr. Längst war erst vor kurzem. Auch diese korrekte und nette Lehrerin hat kein Interesse, ihre Schule als totalitäre Anstalt erscheinen zu lassen.
6. Stunde. Geografie
„Ich habe ja früher auch Staatsbürgerkunde unterrichtet“, sagt der Lehrer bei der Begrüßung. Sagt es so kriecherisch, daß ich mich sofort nach hinten auf meinen Stuhl setze. Er muß annehmen, daß ich von dieser Befleckung schon durch den Schüler weiß, mit dem ich gekommen bin. Denn der, nicht bei den Pionieren, nicht bei der Jugendweihe, ist von Herrn W. bevorzugt schikaniert worden. Herr W. hat sich nach der Wende vor der Klasse entschuldigt. Und: Was er getan hat, hat er auch nur gegen seinen Willen getan. Er ist nicht mehr Parteimitglied.
Jetzt wünscht er der Klasse, daß die Wünsche für das neue Jahr auch in Erfüllung gehen. Wünsche gewünscht, wünsch, wünsch, echot es leise und respektlos aus dieser. Der Lehrer überhört es, die Autorität ist futsch. Er fragt, was mittlerweile geschehen ist. Ceaucescu ist tot, sagt eines. „Ja, ist das nicht furchtbar“, beginnt Herr W. einen längeren Lehrervortrag, nicht die neue Regierung, aber daß diese, diese, er sucht nach Worten, Clique muß man schon sagen, das alles im Namen des Sozialismus getan hat. Auf der rückwärtigen Wand illustriert noch ein Schema, wie die Epoche der Sklavenhaltergesellschaft vom Feudalismus abgelöst wird, dieser vom Kapitalismus, dieser, ab 1917, und mit ganz dickem Balken seit 1945, vom Sozialismus.
Hat Ceaucescu denn die Dörfer nun schon dem Erdboden gleichgemacht, fragt Beate. Wieder ein längerer Lehrervortrag, der die Frage nicht beantwortet. Ob das stimmt, daß jede Familie fünf Kinder hätte haben müssen und davon zwei der Securitate abgeben, fragt Björn. Herr W. glaubt das nicht, es folgt ein längerer Vortrag. Dann noch, daß er vermißt hat, daß sie die Veränderung in der CSSR angesprochen hätten. Die Klasse dämmert. Dann Atlas auf. Thema: Was ist ein Ballungsgebiet? Erst die 5 Kriterien aus der Karte über die CSSR herauslesen, dann die Ballungsgebiete der CSSR aufzählen, dann zu jedem Ballungsgebiet in der CSSR gemeinsam und endlos die jeweils ansässigen Industrien aus dem Atlas raussuchen und ins Heft eintragen. Es ist quälend langweilig, der Lehrer null vorbereitet, der Stoff sinnlos und nicht zu behalten, die naheliegende Verbindung vom Ende des Sozialismus in der CSSR und den veralteten Industrien ihrer Ballungsgebiete nicht aufgefallen. Nach einer bleiernen Ewigkeit ist auch dieser erste Schultag zuende, der “...die jungen Menschen zu schöpferischem Denken und selbständigen Handeln befähigen soll.„(Das Bildungswesen der DDR, 1989).
Uta Stolle
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