: ...und alles bliebe, wie es ist-betr.: "Der Mann hinter Tucholsky", taz vom 9.1.90
betr.: „Der Mann hinter Tucholsky“, taz vom 9.1.90
(...) Kein Zweifel, daß Tucholsky, lebte und schriebe er noch wie ehedem, der gefragteste deutsche Journalist wäre, Favorit der Intellektuellen, verhätschelter Liebling der bürgerlichen Feuilleton-Abonnenten, Parteienschreck und Politikergreuel, furchtloser Matador in satter Arena, Punchingball der Vertriebenenverbände.
Tucho für Deutschlands unverbindliche Kollektive, der zeitkritische für 'Spiegel'-Fans, der polemische für 'Stern‘ -Gucker, der melancholische für Frau Studienrat, der kesse für Herrn Direktor, auch die Deutschlehrer kämen nicht zu kurz, Kabarettgelächter und Frühstücksironie, die zugkräftigste publizistische Ein-Mann-Schau des liberalen Wohlfahrtsstaates; unter den Ministerialbürokraten hätte er Freunde; er wäre Träger aller Journalistenpreise, und alles bliebe, wie es ist, wie es ist, wie es ist...
Wie schön, daß wir ihn, der vor 55 Jahren in der Emigration, an Deutschland und sich selbst leidend, freiwillig aus dem Leben schied, heute als Ritter ohne Furcht und Tadel bewundern können. Kompensationsmöglichkeit für malträtierte Seelen, Trostpflästerchen für esoterische Sektierer; Begeisterung bei Stürmern, Drängern, Jugendlichen jeden Alters; Genuß ohne Reue an sonnigen Swimmingpools und in Gemüsesaft-Sanatorien. Alle Leser werden sich bei ihm etwas denken, und alle werden ihr Tucho-Liedchen summen, heitere Wehmut wird sie heimsuchen, und viele werden beim Lesen seiner Werke zum ersten Mal entdecken, daß man sich in der deutschen Sprache präzise ausdrücken könnte - wenn man's könnte. Aktueller, liebenswürdiger Tucholsky, Alibi aller erhobenen Zeigefinger, Prophet der verpaßten Gelegenheiten, die sauber gedruckte Visitenkarte des trotzköpfigen Bürgers. Wie tröstlich, daß wenigstens die Unverbesserlichen ihn nicht mögen.
Karl Kirchner, Würzburg
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