Baku droht mit Sezession

■ Ultimatum des aserbaidschanischen Parlaments an Moskau / Eine Million Menschen bei Beerdigung der Opfer des Einmarsches / Erste Zeichen der Entspannung?

Moskau/Teheran (afp/taz) - Nach dem Einrücken sowjetischer Truppen in Baku hat sich das aserbaidschanische Parlament auf die Seite der Nationalisten gestellt und auf eine offene Kraftprobe mit Moskau eingelassen. Auf einer Dringlichkeitssitzung verabschiedete der Oberste Sowjet am Montag eine Resolution, in der er Moskau zwei Tage Zeit gab, den Ausnahmezustand zu beenden und die Truppen wieder abzuziehen. Sollte sich Moskau weigern, drohten die Abgeordneten mit einer Abspaltung Aserbaidschans nach dem Vorbild ihrer Exklave Nachitschewan, die sich bereits am Samstag für unabhängig erklärt hatte. Der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums, Gennadi Gerrassimow, bezeichnete den Schritt Nachitschewans als verfassungswidrig. In der armenischen Stadt Jerask sollen sich allerdings hohe Parteifunktionäre und Regierungsvertreter der verfeindeten Nachbarrepubliken inzwischen darauf verständigt haben, die bewaffneten Gruppen von der Grenze abzuziehen und den Eisenbahnverkehr wieder aufzunehmen.

Der Militärkommandant Bakus, General Anatoli Dubinjak, hatte seinerseits zuvor alle Einwohner Aserbaidschans aufgefordert, bis Mittwoch ihre Waffen abzugeben und ihnen als Gegenangebot die Milderung des Ausnahmezustands und Straffreiheit zugesichert. Wie es in der Resolution des aserbaidschanischen Parlaments weiter hieß, stellt der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Baku vom Wochenende, mit dem Moskau den Bürgerkrieg zwischen Aserbaidschanern und Armeniern beenden wollte, eine „Verletzung der Souveränität Aserbaidschans“ dar. Gambarow kündigte Aktionen seiner Volksfront - eines Bündnisses verschiedener Gruppen - gegen die Moskauer Zentrale an. Beobachter in Mokau gehen davon aus, daß - ähnlich wie im Falle der georgischen Hauptstadt Tbilisi - liberalere und demokratische Kräfte in Aserbaidschan durch den Truppeneinsatz zunehmend unter den Zugzwang der radikalen Nationalisten geraten.

Wo die Sympathien der Bevölkerung liegen, zeigte sich am Montag erneut anläßlich der Beerdigung der Opfer des sowjetischen Einmarsches. Rund eine Million Menschen gaben ihnen das letzte Geleit. Die von moslemischen Würdenträgern geleitete Trauerzeremonie begann auf dem Freiheitsplatz, dem ehemaligen Leninplatz, im Zentrum der aserbaidschanischen Hauptstadt. Die Särge wurden in einer feierlichen Prozession zum Kirow-Park gebracht und dort beerdigt. Während der gesamten Feier hatten sich die sowjetischen Soldaten zurückgezogen, und die befürchteten Ausschreitungen blieben aus.

Die Angaben über die Opfer des Einmarsches gehen indes weit auseinander. Die sowjetische Nachrichtenagentur 'tass‘ gab die Zahl der Toten mit 83 an, darunter 14 Soldaten. Der Vertreter der Volksfront, Isa Gambarow, sprach dagegen von rund 500 Toten, ein anderer Sprecher gar von 1.000. Gambarow warf der sowjetischen Armee vor, sie halte die meisten Leichen unter Verschluß und weigere sich, sie den Angehörigen zu übergeben. Anhänger der Volksfront blockierten den Hafen Bakus, um zu verhindern, daß die Leichen ins Meer geworfen würden. 'tass‘ sprach von zahlreichen Festnahmen.

Inzwischen ging der Kleinkrieg zwischen Aserbaidschan und Armenien weiter. Zwölf Menschen wurden laut 'tass‘ am Sonntag beim Kampf um ein Dorf im Grenzgebiet nach einem armenischen Angriff getötet. Das Eingreifen von Sondertruppen des Innenministeriums habe Schlimmeres verhindert.

In den Beziehungen zwischen Iran und der Sowjetunion stehen die Zeichen mittlerweile wieder auf Entwarnung. Teheran schlug am Montag einen gemäßigteren Ton gegenüber Moskau an und setzte auf die diplomatische Karte, um zu einer Fortsetzung auf Seite 2

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Lösung des Konflikts in Aserbaidschan beizutragen. Bereits am Sonntag abend beauftragte das Kabinett Außenminister Ali Akbar Welajati, „konkrete Maßnahmen“ in die Wege zu leiten, um „das Blutvergießen in Aserbaidschan zu beenden und die Probleme zu lösen“. Wie diese Maßnahmen aussehen sollten, wurde nicht konkretisiert. Auch in den Medien wurde der Ton um einige Grade heruntergeschraubt. Einhellig war in den Kommentaren nur noch von einem „bedauerlichen Fehler“ des Kreml die Rede.

Die sowjetische Armee bezog an

zwei der wichtigsten Grenzübergänge zwischen Aserbaidschan und dem Iran Stellung. Am Wochenende hatten laut 'Iswestija‘ 40.000 Aserbaidschaner bei Lenkoran die Grenze überschritten.

In Istanbul demonstrierten am Sonntag rund 4.000 rechtsgerichtete Türken gegen das Vorgehen des sowjetischen Militärs gegen die türkisch-stämmigen Aserbaidschaner. Die mehrheitlich aus Anhängern der verbotenen „Grauen Wölfe“ bestehende Menge wurde von der Polizei daran gehindert, vom zentralen Taxim-Platz zum sowjetischen Generalkonsulat zu ziehen. Die Demonstranten riefen: „Graue Wölfe nach Baku“, und bezeichneten Gorbatschow als „Mörder“.