: Melancholie
Stimmungsbericht zur Plage der Nation ■ K O M M E N T A R E
Seit drei Monaten geht sie erst durchs Land, die real existierende Revolution in der DDR, und ist schon jetzt so öde. Nicht langweilig mangels Ereignissen, sondern mangels originären Inhalten. Zur Rank-Xerox-Revolution ist sie geworden, die Schnelligkeit nur in einem beweist: die BRD -Verhältnisse zu kopieren. Als ob wir nicht daran schon genug hätten. Nur wir?
Drei Monate haben ausgereicht, um beispielsweise die Parteienlandschaft der BRD - eines der tristesten Gebiete überhaupt - beinahe lückenlos abzukopieren. Was sind denn Parteien? Hat in ihnen je die gesellschaftliche Befreiung stattgefunden? Im Gegenteil: Lebendigen Diskurs zerren sie auf Linie, dämmen ihn ein, erklären ihn zum außertagesordentlichen Abseits. Wenig vergnüglich ist es, die mediale Verdoppelung der Parteivertreter in Ost und West zu bewundern: Der Auftritt der CSU-Herren in Bonn und Leipzig oder der Herren des Demokratischen Aufstoßes in Leipzig und Bonn ergibt mindestens zwei Fernsehberichte und fünf Pfund Schlagzeilen zusätzlich.
Und drei Monate waren genug, um den vielbefürchteten ökonomischen Ausverkauf zu organisieren: ob illegal durch Schwarzmarkttausch, halblegal durch vollgeil oberbilliges Schlemmen im Osten oder scheißegal durch die Aufgabe der 49 -Prozent-Sperre für westliche Investoren. Die soziale Marktwirtschaft, sie wird drüben mit Entlassungen und Sozialabbau noch grausig unsozial wüten und noch mehr Übersiedler losschicken. Die Hoffnung einiger unverdrossener Intellektueller, daß dann endlich die Wende nach links erfolge, ist dünnsuppig.
Sicherlich und fünfmal zugegeben: Die Vorstellung eines Sozialismus, in dem sich dessen Anhänger und Gegner lebendig herzhaft pluralistisch über die gesellschaftlichen Zielvorstellungen streiten, war auch schon im November kaum mehr als ein Traum. Aber doch ein warmer. Man hätte sich allerhand vorstellen können: Die Vervolk-kommnung und Überführung des Staatseigentums in gesellschaftliches Eigentum; eine förderliche Konkurrenz zwischen Genossenschaften, Kollektiven, Aktiengesellschaften im Besitz der Belegschaften; die Wahl von Räten auf vielerlei Ebenen, die neue ökologische Prioritäten für das bedrohte Soziotop DDR verfolgen; die Wahl von Rätinnen, die den für Männer geltenden Gesellschaftsvertrag auf die Frauen und eine neu entworfene weibliche Welt ausdehnen.
Alle wissen es, es ist furchterregend banal: Von Anfang an hatte die kleine kaputte und aus allen Schloten stinkende DDR gegenüber der großen feisten BRD keine Chance. Und doch tut es weh, dieser Utopieverlust, diese ernüchternde Entmystifizierung der einstmals heiligen Begriffe „Revolution“ und „Volkswille“. Des Volkes Willi, das sind wir alle, die wir das Baden in Wiedervereinigungsparolen so schwer ertragen können.
Dabei gibt es einen Vorratsschatz von „überschüssiger“ Demokratie, den die deutschdemokratischen Revolutionäre erstritten haben und der ausnahmsweise für das ganze deutsche Land höchst erhaltenswert wäre. Das ist der umfassende Anspruch auf Kontrolle des Staates von unten, der sich im Streichen der Straftatbestände für zivilen Ungehorsam und gewaltfreie Blockaden genauso ausdrückt wie in der Abschaffung von Stasi und Verfassungsschutz.
Das Geheimnis der osteuropäischen Revolutionen scheint mir auch darin zu liegen, daß sie informationelle Revolutionen waren, darauf angelegt, jahrzehntelangen Mangel an Öffentlichkeit nachzuholen, und zwar so gründlich, daß sie diese unsere saturierte Öffentlichkeit längst überholt hat.
Gesellschaftliche Kommunikation ist eine Produktivkraft, nicht nur im politischen und moralischen Sinne, sondern im Zeitalter der Massenverdrahtung auch im materiellen. Der Hunger nach Worten, Sprache, Ausdruck, Daten, Zeitungen, Medien, Geschichte, er ist vielleicht sogar das eindrücklichste in dieser unvollendeten DDR-Revolution. Er scheint selbst dann noch durch, wenn die Massen scheinbar sinnlos wieder und wieder montags die gleichen Parolen schreien und die Straßen verstopfen. Dieser ritualisierte Drang nach Selbstinszenierung und geradezu verzweifelter Selbstversicherung, daß man noch die treibende Kraft sei, nimmt wahrscheinlich umso mehr zu, je stärker sich die diversen Parteienapparate konstituieren und damit gegenüber dem anarchischen Impetus der Kontrolle von unten abschotten. Denn nicht nur die verhaßte SED, sie alle können den Hunger nicht stillen, im Gegenteil, sie ziehen Öffentlichkeit von der Gesellschaft weg und hin auf sich. Die Demonstrationen sind ein hilfloser und auch nicht immer überzeugender Protest gegen die aufkommende Ödnis, und gleichzeitig treiben sie die Ödnis mit der Forderung nach der geeinten Nation voran. Küß mich, Melancholie.
Ute Scheub
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