: 11 kleine Tanten statt Vatermord
■ Marlis Gerhardt im Frauenkulturhaus über weiblichen Avantgarde ohne Geschichte
Aber gestern habe der Professor Sautermeister im ersten Vortrag der Literarischen Woche gesagt, es gäbe keine weibliche Ästhetik, und wo es sie gäbe, sei es keine gute Kunst, echte Kunst sei nicht männlich, nicht weiblich, sondern immer beides. Sagte eine der vielen Zuhörerinnen im bis auf den letzten Fußbodenplatz gefüllten Frauenkulturhaus nach dem Vortrag der Stuttgarter Funkredakteurin Dr. Marlis Gerhardt über „Ästhetik und Avantgarde“. Und sie wolle jetzt wissen, worin nun - aus feministischer Sicht - „weibliche Ästhetik“ bestünde.
Marlis Gerhardt sagte nie, daß das Definitionsbedürfnis männlich ist. Nur: „Zu sagen, es gibt eine weibliche Ästhetik, ist mir genauso eine These, wie daß es keine gibt.“ Sie meinte eine vorschnelle These und auch, daß der angeblich männlich/weibliche Charakter der großen Kunst wieder eine männliche Norm setzt, die behindert. Gerhardt hielt es
nicht mit Definitionen sondern mit der Beschreibung von Zugängen zur Literatur. Wobei sie davon ausging, daß weibliche künstlerische Arbeit, solange gesellschaftlich männlich-weibliche Konzepte gelten, auch als solche kenntlich ist.
Gerhardts These: Die Avantgardeliteratur des frühen 20. Jhts. ist genau wie die Vorläuferavantgarde der Romantik nicht zu denken ohne die Figur des spätgeborenen Sohnes, der eigenes produziert, indem er die Tradition der übermächtigen Väter verwirft (Kristeva) und ihre formalen Muster zertrümmert. „Auf diesem Sprachkampfplatz der Generationen haben die Töchter nicht viel zu suchen.“
Gerhardt nähert sich dieser These einkreisend, über Beispiele. Beginnt mit der Romantikerin Rahel Varnhagen, zentriert auf Virgina Woolf und vor allem Gertrude Stein. Varnhagen springt raus aus der Rolle der Muse, die, Pendant zum männlichen Genie, das, willensfrei und göttlich schöpfend schreibt, zuhört und anregt aber nicht schreibt. Dokumentierte in rasender Flut von über 10.000 Briefen ihr ICH, geschichtslos, ohne Muster, alltagssprachlich, gegen
wartsbeschränkt. Aber das „weibliche Genie außerhalb der Konkurrenz“ traut sich den Sprung in die für Musen nicht vorgesehene Öffentlichkeit nicht, macht aus ihren Briefen keinen Briefroman, wie die männlichen Mitromantiker.
Wie die Varnhagen zertrümmerten die Avantgardistinnen des 20. Jahrhunderts keine formalen Muster, sondern fangen neu an. Sie versuchten, „die Muster zu unterlaufen“, nicht die literarischen Väter kaputt zu machen,-„wen hätten sie da umbringen sollen?“ - sondern unhistorisch, insistierend auf Gegenwart, ausgehend nicht von der Kunst- sondern von der Alltagssprache, eigenes zu produzieren. Was, da gab Gerhardt dem Einwurf einer Zuhörerin recht, für Woolfs Orlando nicht zutrifft, belegte sie an Gertrude Stein. Allerdings der einzigen, die offizielle Zurechnung zur Avantgarde fand, weil sie „diese ungeheure männliche Unverschämtheit hatte“, zu sagen, mich kümmert nichts und :„Ich kann alles. Wurscht!„(O-Ton Gerhardt). Stein habe die Last der Väter ignoriert und ihre Sprache und deren Rhythmus aus dem ständigen Gespräch der „elf kleinen Tanten“ gezogen, unter de
nen sie aufgewachsen sei.
Nur angedeutet: Irmgard Morgners Versuch, Vergangenheit nicht zu ignorieren, sondern fiktiv anzueignen. Motto: „Alles gehört mir, auch wenn ich im Testament nicht gemeint bin.“
Uta Stolle
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