Kann Schule „multikulturell“ sein?

■ Debatte in der Bremer„Pädagogischen Woche“ / Berlins Kreuzberg soll Vorbild sein

Das erste Zauberwort der fortschrittlichen PädagogInnen hieß „Integration“. Türkische, jugoslawische, portugiesische Gastarbeiterkinder sollten aus dem Ghetto rausgeholt und zur Anpassung an ihre deutsche Umwelt erzogen werden. Dann wurden kritische Geister hellhörig: „Integration“ - schwang da nicht ein Unterton mit von „Germanisierung“ und von „Assimilierung“? Daraufhin wurden neue schöne Zauberworte ohne diesen Unterton geprägt: „interkulturell“ und „multikulturell“.

Gestern saßen auf dem Podium der „Pädagogischen Woche“ drei Experten, die sich der Frage nach dem Gehalt der neuen Zauberworte stellten: „Gibt es die Möglichkeit der multikulturellen Erziehung?“ Eingeladen hatte der Ausbildungspersonalrat der bremischen Lehramts -ReferendarInnen. Ort des Geschehens: Das „Wissenschaftliche Institut für Schulpraxis“ (WIS) in Findorff.

Während die beiden Bremer auf dem Podium das Thema mehr von seiner theoretischen Seite beleuchteten, konnte der Gast aus Berlin aus den praktischen Erfahrungen an einer Kreuzberger Modellschule schöpfen. Der Bremer Studienleiter Erwin Jürgensen betonte vorab, worauf „interkulturelle“ ErzieherInnen achten müßten: Darauf, Ausländer nicht länger als Problem zu betrachten; das Fremde nicht nur zu ertragen, sondern es auch zu wollen. Jürgensen wies daraufhin, daß zu einer „interkulturelle Erziehung“ gehöre, die Inhalte des Unterrichts auf ihre „euro-zentristische“ Perspektive zu überprüfen. So manche althergebrachte Geschichtsstunde dürfe heute nicht mehr gehalten werden. Beispielsweise die nach dem Schema: „1453 sperrten die Türken den Landhandelsweg nach Indien“. Da nehme der Lehrer die Perspektive der venezianischen Kaufleute ein, und die Schüler von heute lernten: „Auch damals waren es schon die Türken.“

In der „Kiez-Schule“ in Berlin-Kreuzberg, einer Haupt-und Re

alschule, sind sogar 60 bis 80 Prozent der SchülerInnen Migranten-Kinder. Die Schule sei für diese Kinder zu einem „Magneten“ geworden, berichtete der Podiumsgast aus Berlin, Erich Beyler. Es gäbe zwar noch immer etliche deutsche und auch etliche türkische Eltern, die ihre Kinder in anderen Stadtteilen zur Schule gehen ließen, weil auf Kreuzbergs Schulen „zuviel Ausländerkinder“ seien, aber als Reformschule sei die „Kiez-Schule“ gerade für viele „linke“ Eltern eine Attraktion. Der Berliner Erwin Beyler bekannte: „Ich habe Probleme mit dem Begriff 'interkulturelle Erziehung‘. Ich verwende den Begriff 'antirassistisch‘.“ Denn das Wort „interkulturell“ gaukle eine Gleichberechtigung vor, die faktisch nicht vorhanden sei: Türkische Eltern zahlen Steuern, dürfen aber nicht wählen. Aussiedlerkinder bekommen Sprachunterricht von der Bundesregierung bezahlt, ausländische Kinder nicht. Aufgrund dieser faktischen Diskriminierung könnten „interkulturell“ Erziehende auch nur dann glaubwürdig sein, wenn sie außerhalb der Schule politisch gegen diese Diskriminierungen kämpfen würden: „Schule muß offen sein.“ Auch wolle sich sein Kollegium dafür einsetzen, daß der nächste Schulrat Kreuzbergs Ausländer sei. Die Schüler würden sehr genau auf diese Strukturen achten, und es ginge nicht an, daß nur die Putzfrauen Türkinnen seien.

An der „Kiez-Schule“ bekommen türkische Kinder vier Stunden Mutterschprachlichen Unterricht, für kurdische Kinder ist Ähnliches geplant. Das Osterfest wird auf kurdisch gefeiert, Klassenfahrten werden meistens in die Türkei gemacht und zu diesem Zweck von einer Stiftung bezuschußt. Die Kinder besuchen gemeinsam Kirchen, Moscheen und Jugendtheater. Erwin Beyler: „Als die Mauer aufging, haben wir uns nicht hingesetzt und diskutiert: Kommt jetzt der neue Nationalismus? Sondern wir haben Ost-Berliner Kinder eingeladen

und Schul-Partnerschaften geschlossen. Und wir die Fußballmannschaft hat sich gefreut: 'Jetzt können wir endlich Auswärtsspiele machen.'“ Natürlich gebe es den „Kampf der Kulturen“, und sein Kollegium sei gespalten bei der Frage, wie LehrerInnen mit den türkischen Mädchen umgehen sollten, die immer zahlreicher mit Kopftuch zur Schule kämen. Doch ausländerfeindliche Parolen würden in den letzten Jahren von keinen SchülerInnen mehr gerufen.

Eine Bremer Lehrerin aus dem

Publikum ergänzte aus ihrer Praxis: An ihrer Schule habe sie mit KollegInnen ein neues Fach erfunden worden: „Kulturkunde“. Auch hätten die ausländischen SchülerInnen eigene SprecherInnen gewählt, um ein Sprachrohr zu haben. Viel mehr Anregungen aus der bremischen Praxis gab es nicht. Stattdessen die wiederholte Klage, wie schwer die neuen „interkulturellen“ Ideen in die Köpfe der Lehrerkollegen hineinzukriegen seien: „Die meisten wollen, daß sich die ausländischen Kinder anpassen.“

Barbara Debus