: Architektur als Sozialwissenschaft
■ Bremer Architektur-Studenten entwarfen Ausbildungszentrum in Nagpur/Indien
Das Wissen, wie ein Fahrrad repariert oder eine elektrische Leitung gelegt wird, kann in Nagpur/Indien für einen Jugendlichen ausreichen, um den Lebensunterhalt zu verdienen und den Slums seiner Herkunft den Rücken zu kehren. Diese Einsicht führte zu der inzwischen zehn Jahre alten Kooperation zwischen drei Gruppen, die zunächst nichts miteinander zu tun haben: Der Hochschule Bremen Fachbereich Architektur, dem Landesamt für Entwicklungszusammenarbeit und dem Indian Institute of Youth Welfare.
Wie ein junger Baum ranken sich kleine Häuser und Bäume durch die Landschaft des Tonmodells der beiden Architektur -StudentInnen Petra Fritsch und Jürgen Guderian. Die schematische Darstellung eines Baumes hatte als Vorbild für die Planung einer „gewachsenen Struktur“ gedient. Die fließende Anordnung von Bauten soll ein Ausbildungs- und Wohnzentrum für sozial benachteiligte Jugendliche in Nagpur/Indien werden. Peter Diemer vom Landesamt für Entwick
lungszusammenarbeit beim Wirtschaftssenator: „BORDA“, so nennt sich das Ausbildungsprojekt in Indien, „arbeitet seit zehn Jahren mit Nagpur zusammen. Die dort leben“, so Diemer,„profitieren nicht von der rasanten industriellen Entwicklung, die in den letzten Jahren stattgefunden hat.“ Die Idee, „Bauen und Planen in anderen Kulturen“ zu einem Studienschwerpunkt der späteren Architekten zu machen, entstand im Fachbereich Allgemeine Wissenschaften. „Wir fanden unbekannte und schwere Bedingungen vor, haben uns aber intensiv in die religösen und kulturellen Strukturen des Landes eingearbeitet“, so Dieter Sebastian, Architektur -Professor. Die Studenten haben sich für den Entwurf des Schulkomplexes über das tägliche Leben einer indischen Familie kundig gemacht. Ihre Erkenntnis: Die gebaute Umwelt ist eben mehr als nur ein Dach über dem Kopf, und deshalb lassen sich die Erfahrungen aus dem Ausland auch für heimische Projekte verwerten. Die Distanz zur eigenen Kultur und das Sich-Einlassen auf
eine fremde Kultur erhöhen die Feinfühligkeit im Umgang mit Machbarem und Möglichem vor der eigenen Haustür.
Die beiden Vertreter vom indischen Jugendwohlfahrtsinstitut sind über die gelungene Zusammenarbeit begeistert. Shri Manohar Golpelwar, Sozialwissenschaftler und Direktor des Instituts: „Die Träume der armen Menschen werden nur selten wahr.“ Er lobt die interessante und kritische Diskussion unter den Beteiligten, die informelle Atmosphäre und den zweckmäßigen Entwurf.
Petra Fritsch und Jürgen Guderian erklären am Modell, wie sich die Jugendlichen, zum ersten Mal weg von zu Hause, in der geplanten Anlage wohlfühlen können: Die Häuser sind in Gruppen angeordnet, bilden Innenhöfe und sind nach Funktionen getrennt. Weil in Indien auch viel draußen gelebt wird, haben die Häuser Terrassen, die Platz für Tische unter
freiem Himmel lassen. Die Häuser mitsamt den Terrassen liegen 50 Zentimeter erhöht, so daß beim Monsunregen das Wasser schnell abfließen kann. Alle Zimmer sind von außen zugänglich, auf Innenflure wurde verzichtet. In einer angepaßten Bauweise werden Baustoffe wie lehm- und grasgebrannte Ziegel verwendet, die in Anlehnung an traditionelle Bauformen eine tragende Rolle spielen.
Das Landesamt für Entwicklungszusammenarbeit hielt für die Newcomer-Architekten ein Überraschungsbonbon bereit: Petra Fritsch und Jürgen Guderian dürfen auf Kosten der Behörde nach Indien reisen. Vier andere Studenten, die sich am Projekt beteiligt haben, erhalten einen Reisezuschuß. Die Verwirklichung ihres Projektes werden sie sich dort allerdings noch nicht anschauen können: Gebaut wird frühestens in zwei Jahren. Beate Ram
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen