: Vitamine für d das Volk
■ Vitamin B war in der DDR über Jahrzehnte hinweg eine absolute Mangelware; sei es in Form von Bananen oder von Beziehungen. Was andere Vitaminträger angeht, wurde gleich großflächig produziert: Im Süden Berlins befindet sich die größte Obstplantage der DDR, auf der hauptsächlich Äpfel der Marke „Gelber Köstlicher“ wachsen.
THORSTEN PREUSS besuchte den Kooperationsverband Havelobst.
Fahre immer auf der eins entlang Richtung Brandenburg“, duzt mich der DDR-Grenzbeamte auf die Frage nach dem Havelland. Hinter Potsdam, an einer Eisenbahnbrücke, das erste Zeichen für den richtigen Weg. „Havelobst - Tafelobst“ versuchen die Farbreste auf der Reklametafel die Bürger zu erinnern. Die ersten Obstplantagen tauchen am Horizont auf. Das havelländische Obstanbaugebiet beginnt. Es ist das größte seiner Art in der DDR. Das größte deshalb, weil es eine zusammenhängende Fläche von 9.800 Hektar allein für Obst bietet, die sich über die Kreise Potsdam, Brandenburg und Nauen erstreckt. Mit dieser Anbaufläche sollte die „kontinuierliche Versorgung der Bevölkerung mit vitaminreichem Obst und Gemüse“ jederzeit erreicht werden. Ein Anspruch, dessen Einlösung jeder durch einen Blick in die Geschäfte der DDR überprüfen kann.
Nach kurzer Zeit erreiche ich Werder. Daß der Tag regnerisch trüb ist, dafür kann Werder nichts. Und trotzdem darf es ja nicht vom Wetter abhängen, ob eine Stadt schön ist oder nicht. Werder ist es nicht. Es scheint dieselben Probleme zu haben wie alle anderen Städte der DDR auch: Häuser, die schon zerfallen sind, kurz davor stehen oder es bald werden, prägen das eintönige Stadtbild. Die Mitte von Werder bildet eine 100 Jahre alte Rotbuche, um die sich der spärliche Verkehr bewegt. Vor dem HO-Laden sitzt ein Bauer in Filzstiefeln und Wattejacke auf einem Stein. Ich frage nach der LPG. „LPG gibt's hier nicht.“ „Was dann?“ frage ich weiter. „GPG“, sagt er und freut sich über das Fragezeichen in meinem Gesicht. „Gärtnerische Produktionsgenossenschaft, nie gehört, wa, kommst wohl aus der Stadt?“ Aha, denke ich bei mir. War der erste Eindruck, daß Werder nur ein mutiertes Dorf ist, gar nicht so falsch, und sage „West -Berlin“. „Willste Land koofen?“ faltet sich sein Gesicht. „Nein, drüber schreiben.“ - „Damit's andere koofen?“ „Nein, damit sie's kennenlernen.“ „Aha“, sagt er und klingt keineswegs erleichtert. Ich solle immer die Ernst-Thälmann -Straße langgehen bis zum Haus „Frühling“, dem Sitz der GPG Obstproduktion.
Die dortige Kaderleiterin, eine Frau von zirka 50 Jahren, greift gleich, als sie tageszeitung West-Berlin hört, zum Telefonhörer, um bei irgendeinem Chef einen Termin für mich auszumachen. Bis dahin erzählt sie mir ihre Sorgen und ein bißchen mehr. Die Sorgen beziehen sich, wie überall in diesem Land, auf die ungewisse Zukunft der Betriebe im ersten und vielleicht letzten Jahr der neuen Republik. Das andere ist ein bißchen Havellandgeschichte.
„Als Versorgungsgürtel um Berlin ist es gedacht gewesen. Und diese Aufgabe hat es im Rahmen der Möglichkeiten immer erfüllt.“ Dieser Rahmen läßt sie aber schnell wieder zu den Sorgen zurückkommen. Der soll zwar nun größer werden - „sagt man“ -, aber in welchen Dimensionen und unter welcher Leitung ist, wie so vieles, unklar. Überlegungen werden angestellt in Richtung privatwirtschaftliche Initiative. „Aber wir wissen gar nicht, wie Marktwirtschaft gemacht wird“, sinniert sie. „Zum Beispiel wenn wir merken, daß der junge Blumenkohl nichts bringt, ist es zu spät, andere Jungpflanzen zu setzen.“ Erschwerend kommt für sie noch dazu, daß „dem Bauern das Rechnen nicht so liegt, aber das ist bei Ihnen ja nicht anders“, was ich verständnislos zur Kenntnis nehme.
Richtig stolz wird sie dann aber doch noch. Ihre GPG nämlich betreibt seit fünf Jahren Weinanbau. Vier Hektar der Sorte Müller-Thurgau bewirtschaften sie. Wenn ich Zeit hätte, solle ich mir die Weinberge mal anschauen. „Gleich links hinter der Tankstelle, Richtung Potsdam“, erklärt sie mir und schickt mich auf den Weg zurück zur Stadtmitte, zum „Kooperationsverband Havelobst“.
Im Treppenhaus des Gebäudes sitzen vier Angestellte um einen Tisch und trinken Kaffee. An der Wand hängen Schaukästen, in denen erst seit kurzem Ausschnitte aus der DDR-Satirezeitschrift Eulenspiegel hängen. Eine der Überschriften reagiert auf die täglichen Enthüllungen mit der dunklen Ahnung: „Morgen kommt bestimmt heraus, daß das Alphabet von A bis Z erlogen ist.“
Da der Chef noch nicht da ist, plazieren die vier mich an ihren Tisch. Mit einem Blick auf ihren Kaffee frage ich sie, ob ein Glas Wein aus Werder jetzt nicht besser wäre. Eine Antwort scheint nicht leicht zu fallen. Vielleicht aus Lokalpatriotismus, denke ich, doch dann geben sie es zu: „Nee danke, der schmeckt nicht.“ Warum er dann angebaut wird, frage ich sie. „Die wollen von den Äppeln wegkommen“, sind sie sich einig.
Die Äpfel. Hauptanbauprodukt des Havellandes, das Obst, das die Gegend so bekannt gemacht hat. „121.580 Tonnen wurden von uns 1989 geerntet“, rechnet Herr Porsch vor. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Kooperationsverbandes Havelobst, dem Zusammenschluß der über 20 Genossenschaften, die so urbäuerliche Namen tragen wie „Einheit und Frieden“, „Lenin“ oder „Sozialismus“.
„Für den Apfel haben wir uns entschieden, weil wir damit die Bevölkerung ganzjährig versorgen konnten.“ Die aber will nicht nur in den Apfel beißen, sondern auch mal Erdbeeren oder Kirschen essen. Davon wurde aber nur ein geringer Teil angebaut. „Erdbeeren waren es im vergangenen Jahr 3.874 Tonnen und Süßkirschen 3.159 Tonnen.“ Davon ging das meiste, wie auch ein Teil der Äpfel, als Konzentrat in Richtung Westen. Dort kommt es dann als Marmelade oder Fruchtsaft auf den Markt. Die Verteilung des Obstes über die ganze DDR klemmt dagegen schon seit Mitte der siebziger Jahre, als durch die Ölkrise die Spritkontingente der Transport-LKW zusammengestrichen wurden.
Im genossenschaftseigenen Konsum „Porama“ gibt es seit neuestem verschiedene Fruchtsäfte und Obstweine. Nicht die gute Ernte, sondern die Bürger sind dafür verantwortlich. Deren Eingaben gegen die unzureichende Versorgung durch die volkseigene Saftfabrik, die wie eine Provokation gleich um die Ecke des Konsums steht, wurden nach der Wende nicht mehr weggeworfen, sondern ernst genommen. Dennoch liegen im Laden neben Rosenkohl nur Äpfel im Regal. „Gelber Köstlicher“ heißt die Sorte. In einem Land, wo Schuhcreme mit dem Aufdruck „Farblos“ verkauft wird und eine Zigarillomarke „Sprachlos“ heißt (wohl wegen des zu erwartenden Kehlkopfkrebses, d.Red.), hat das aber nicht viel zu bedeuten. Ich erstehe nichtsahnend drei Flaschen Erdbeerwein, die mir Tage später einen Vollrausch bescheren werden.
„6.000 Menschen arbeiten im Verband, denen es finanziell immer etwas besser ging als anderen, da sie nebenbei auch privat angebaut haben“, meint Herr Porsch. Privatinitiative, die gefördert werden solle. Auch weil finanzstarke Geldgeber aus dem Westen schon das volkseigene Land abgrasen und nach Beteiligungen Ausschau halten. Namen wollte mir Herr Porsch aber nicht nennen: „Das steht alles am Anfang.“
Die Wende beherrscht jedes Gespräch. Wie soll es weitergehen? Träume werden wieder ausgesprochen, aber bitter ist die Erfahrung aus 40 Jahren Einheitsbrei mit Extrawurst für die Genossen. Frau Gehrke zum Beispiel glaubt nicht daran, „daß sich für uns Kleine hier was ändert“. Sie ist 57 Jahre alt und bewirtschaftet vier Morgen Land, ganz privat. „Kohlrabi, Tomaten, jetzt auch Pfirsiche und Himbeeren bauen wir hier an.“ Die Zusammenarbeit mit der Genossenschaft läßt zu wünschen übrig. „Eigentlich müßten die uns die Jungpflanzen liefern. Wir ziehen die dann groß und verkaufen sie dann an die staatlichen Obstankaufstellen zu einem zu Beginn der Saison festgelegten Preis. „Statt dessen denken sie zuerst an sich selber, und als Privater mußt du sehen, wie du deine Pflanzen selber ziehst.“
Dabei hilft einmal Vitamin B (Beziehung) oder Einfallsreichtum. Weil sie sich ein modernes Treibhaus mit Heizung zur Aufzucht der „Pikierlinge“ (Vorstufe zur Jungpflanze) nicht leisten können, hat ihr Sohn hinter dem Schuppen - weil ohne Baugenehmigung - eine simple Ausgabe davon selber gebaut. In der Mitte steht ein kleiner Kachelofen, von dem ein Ofenrohr quer durch das Glashaus geht und versucht, die Wärme konstant zu halten. Wenn die Pflanzen nach zwei Monaten groß genug sind, werden sie umgesetzt „in Butter- oder Eisbecher, Töpfe sind zu teuer“.
Aber die reine Privatwirtschaft wird und kann es wohl nicht mehr werden. „Die alten Bauern gibt es nicht mehr, die jungen kennen Marktwirtschaft nicht.“ Das mit den staatlich festgesetzten Preisen sei schon in Ordnung, „damit hast du im Januar schon ungefähr deine Jahreseinnahmen gekannt und hattest eine gewisse Sicherheit“. Sie schenkt mir einen Apfel und erklärt mir den Weg zur Landstraße zurück zur Glienikker Brücke. „Irgend etwas gekauft in der DDR?“ fragt mich der Grenzbeamte. Ich zeige ihm die drei Flaschen Erdbeerwein. „Ah, sehr gut. Rot und stark“, feixt er.
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