: "bauchhöhlenschwangerschaft"
Gabriele Kachold
bauchhöhlenschwangerschaft
ich weiß noch genau, wo ich mir am meisten wünschte, einmal
schreiben zu können
es war in den 28 nächten des monats februar 1977 im knast
krankenhaus meusdorf bei leipzig
mit den freundlichen krankenschwestern, die eine uniform haben,
judo lernen und gut schießen können
und den vielen hunden zwischen mauer und stacheldrahtzaun
in den nächten, in denen ich nicht schlafen konnte, den lauf
der sterne in einer nacht durch das fenster beobachtete und
immer die gleichen träume hatte
und im bett lag wegen der operation, die eine fehldiagnose war
und gegen die ich mich nicht gewehrt hatte, weil ich nicht wußte,
daß den meisten frauen im knast die periode wegbleibt
und in der zeit danach kein arzt mit mir geredet hat, was sie
an meinem bauch gemacht haben
unter der breiten narbe, die wie festschlingender stacheldraht
zwischen der haut hervorbricht
und ich hab nicht schlafen können in den nächten
die sterne beobachtet auch wohl aus angst vor den zwei
träumen, die ich nacht für nacht zu absolvieren hatte, wie die
strafarbeit in der klasse, allein nach dem unterricht:
wie ich in einem boot mit einem stock und einer lampe in einer
höhle über wasser fahre
und die höhle ist mein bauch
und das wasser ist mein blut
und mit dem stock stoß ich mich von meinem boden ab
doch ich komme nirgendwo an, und die lampe erleuchtet nur ein
kleines stück fläche, und die höhle dahinter ist unendlich groß
und in dem anderen traum liege ich ganz ruhig nachts im park
unter einem busch nahe bei prag neben der kirschplantage,
von der man sagte, daß der wächter einen hund hat, und wir uns
nicht trauten hineinzuklettern und kirschen zu klauen
ich liege mit lang ausgestreckten armen und beinen am boden
zwei hunde fressen an meinen händen und füßen, ich höre ihr
schmatzen, doch es tut nich weh und sie kommen nicht näher
und immer vor und nach einem traum, wenn ich die sterne
beobachtete und ab und zu mein kindergebet wiederholte, aber
heimlich mit ständiger zurücknahme
habe ich mir gewünscht, daß in dem kommenden prozeß die
strafe ganz gering ausfiele
oder sogar, daß sie mich nach dem knastkrankenhaus nach hause
schicken würden
aber weil ich das schon wußte, daß das kinderwünsche sind, die
sie mir nicht erfüllen würden
habe ich nacht für nach in die sterne gefleht, einmal
schreiben zu können Gabriele Kachold: Zügel los, Aufbau-Verla
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