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Untergrundliteratur

■ Für praxisorientierte Buchempfehlungen

Von der meiner Wohnung am nächsten gelegenen S-Bahn-Station bis zur Stadtmitte dauert die Fahrt mit dem Zug etwa fünf Minuten. Rechne ich die Wartezeit bis zur Ankunft des Zuges hinzu, werden es vielleicht einige Minuten mehr sein. Der Zeitungsleser gehört zum traditionellen Inventar in den innerstädtischen Verkehrsverbindungen. Für eine vernünftige Zeitungslektüre bleibt aber in der Untergrundbahn selten ausreichend Zeit. Thomas MannsZauberberg, Das Schloß von Kafka oder den neuesten Eco, zerrissen in eine Fünf-Minuten-Lektüre? Da reicht's allenfalls für die Klappentexte. Die Zeiten der Kunst sind nicht die Zeiten des städtischen Verkehrsverbundes. Was einem literarisch interessierten S-Bahn-Kunden (oh ja, die gibt es!) fehlt, sind Hinweise auf eine dem Takt der Bahnfahrten angepaßte Lektüre. Auf die besonderen Lesebedürfnisse der ökologisch wie kulturell bewußten Teile des metropolitanen Bürgertums wird in den Rezensionsteilen der Tageszeitungen und den Lektoraten der Verlage viel zu wenig Rücksicht genommen. Lesen denn die Damen und Herren in den Rezensionsstuben der Tageszeitungen oder den Lektoraten der Verlage nie auf ihrem Weg in die Redaktionen...? Eine Spalte „Untergrundliteratur“ pro Monat auf den Rezensionsseiten der Zeitungen wäre wirklich nicht zu viel verlangt. Aus meiner auf langjährigen Kurzstreckenfahrten zusammengelesenen kleinen Bibliothek an Hochgeschwindigkeitsliteratur möchte ich als Orientierungshilfe für gutwillige Rezensenten und Lektoren in aller Bescheidenheit folgende Titel vorschlagen:Das Geheimherz der Uhr und Die Provinz des Menschen von Elias Canetti, die Sprüche und Wiedersprüche von Karl Kraus, Italo Calvinos Unsichtbare Städte, Maximen und Reflexionen von Goethe natürlich nicht zu vergessen, vielleicht einen der vielen Gedichtbände von Erich Fried (weil die Gedichte oft so kurz, so gut und die Büchlein handlich sind). Girogio Manganellis'Irrläufe - Hundert Romane in Pillenform sind geradezu ein Klassiker der suburbanen Literatur. Speziell für Kenner sind, aus aktuellem weltpolitischen Anlaß, die in der Polnischen Bibliotek des Suhrkamp-Verlages erschienenen 2222 Aphorismen Bedenke, bevor Du denkst zu empfehlen. Aphorismen sind ohnehin das ideale literarische Genre für Kurzstreckenfahrten in den modernen urbanen Verkehrsmitteln.

Literaturrezensenten aller Feuilletons, Lektoren aller Verlage, habt ein Herz für uns Freunde der guten Literatur und der schnellen Untergrundbahnen! In den Verlagskatalogen ließe sich in infragekommende Kurzstreckenliteratur vielleicht mit einem roten Punkt kennzeichnen...

Carl-Wilhelm Macke

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