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Den Opfern begegnen

■ Ehemalige Soldaten der nationalsozialistischen Okkupationsarmee auf Besuch in der Sowjetrepublik Belorußland

Irene Dänzer-Vanotti DEN OPFERN BEGEGNEN

Ehemalige Soldaten der national

sozialistischen Okkupationsarmee auf Besuch in der Sowjetrepublik Belorußland

Brest Hauptbahnhof. 14 Zugstunden östlich von Berlin. Steiler Ausstieg aus Waggon Nummer 9. Auf dem Bahnsteig eine geschmückte Männerbrust. Kriegsorden und ein Gorbatschow -Anstecker. Roter Grund. Kaum auf sowjetischem Boden, nesteln große, arbeitsgewohnte Männerhände beige Buttons an Pullover und Jackets, stilisierte Taube, „Belorussisches Friedenskomitee“, der Schriftzug in zwei Sprachen, Russisch und Belorussisch. Mädchen hüpfen den Zug entlang in blumenbestickten Trachten. Sie verteilen rote Nelken: Begrüßung von 70 Reisenden aus der Bundesrepublik Deutschland. Die lächeln etwas hilflos. Ein Mann nimmt seine grüne Wollmütze ab. Einer geht an Krücken. Beinamputiert. Seine Frau zerrt sein lila Halstuch über den Kopf und legt es einem der Blumenmädchen um. Einige Ankömmlinge haben sich um den Ordensgeschmückten versammelt. Er dankt, daß sie die Mühe der Reise auf sich genommen haben. Das belorussische Fernsehen dreht. Von diesem Moment wird später ein evangelischer Pfarrer und ehemaliger Soldat des Rußlandfeldzuges sagen, es sei der bewegendste dieser Fahrt in die Sowjetrepublik Belorußland, Weißrußland, gewesen. „In dieses Land bin ich am 22. Juni 1941 eingefallen. Wir kamen, um Rußland zu erobern, die Menschen zu vernichten. Damals war ich überzeugt, daß das richtig sei. Und heute, da ich über mich selbst erschrecke, werde ich hier mit Blumen empfangen.“

Siebzig Frauen und Männer reisen in die Sowjetunion, um sich über die Verbrechen der Deutschen im Rußlandfeldzug zu informieren, weil sie finden, diese Verbrechen gingen sie heute noch persönlich etwas an, als ehemalige Soldaten, als deren Frauen oder Witwen, als deren Kinder. Politische Pilgerfahrt

„Politische Pilgerfahrt“ nennen sie ihre Reise, die der Christliche Friedensdienst in Frankfurt und die Männerarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland organisiert haben. Es ist also eine protestantische Angelegenheit, und entsprechend tragen die Teilnehmenden das lila Halstuch der Friedensbewegung. In Russisch und Deutsch ist darauf gedruckt: „Komm und sieh“, das Motto der Fahrt, entlehnt dem Titel eines Films des Regisseurs Elem Klimow, der dem Roman Stätten des Schweigens des belorussischen Autors Ales Adamowitsch Bilder gegeben hatte. In kaum erträglicher Genauigkeit beschreiben Adamowitsch und Klimow, wie deutsche Soldaten weißrussische Dörfer niederbrennen, die Bewohner umbringen. Katharsis durch Wahrheit, der Schrei „Nie wieder“ tönt durch Bilder von Grausamkeit: sowjetische Kunst gegen den Krieg.

Dieser Wahrheit wollen sich auch die deutschen Reisenden aussetzen. Gerda M., 73 Jahre. „Es strengt mich doch sehr an, darüber zu reden“, sagt sie uns und streckt sich im Zug, irgendwo in Polen, auf der Liegewagenbank aus. Ihr Mann war in Weißrußland mit einer Sanitätskompanie; er schrieb ihr Briefe aus Brest, aus Baranowitschi, aus Minsk. Ihr Mann ist tot. Gefallen. Mit dieser verbalen Beschönigung sprechen auch die „politischen Pilger“ vom Soldatentod, obwohl sie sich sonst um Genauigkeit bemühen und den Begriff „Ausbruch des Krieges“ streng von der Floskelliste gestrichen haben.

„Ich wollte Rußland mal wiedersehen. Ich war hier im Krieg, und das war ja kein guter Anlaß.“ Helmut Schirge wurde 1943 im Kaukasus verwundet, wie es heißt, wenn ein Soldat verletzt wird, und lebt seither beinamputiert. Die Bilder aus dem Rußlandkrieg begleiteten ihn in Träumen noch heute, erzählt er, als der Zug Warschau schon passiert hat, und gesteht, daß er erst nach und nach, erst in den fünfziger, sechziger Jahren gemerkt habe, wie sich der Rußlandkrieg von den anderen Feldzügen unterschied, daß hier die Wehrmacht Hitlers Plan zu vollstrecken hatte, das russische Volk als „Untermenschen“ zu drei Viertel auszurotten.

Helmut Schirge hat sich der Sowjetunion langsam genähert. Zunächst als Tourist auf einer Wolgakreuzfahrt und mit Prothese - „in Wolgograd wollte ich nicht gleich als ehemaliger Soldat auffallen, schließlich weiß man ja nicht, wie der russische Mensch heute auf uns reagiert“ -, jetzt als „politischer Pilger“, mit Krücken und dem Wunsch, Bürgern der Sowjetunion zu begegnen.

Brest. Festung. Sie wurde am 22.Juni 1941, dem ersten Tag des Überfalls, eingenommen. Heute ist sie Gedenkstätte. Hunderte Menschen verbringen hier ihren Samstagabend, vielleicht der Toten zu gedenken, vielleicht nur um spazierenzugehen. Hier wird Krieg mit der Wucht des sozialistischen Realismus angeklagt, und hier wird das Bewußtsein wachgehalten, daß die Rote Armee im „Großen Vaterländischen Krieg“ siegreich war. Im Eingang, einem überdimensionalen Sowjetstern, ausgespart aus einer meterdicken Betonmauer, hört man das Lied, mit dem die sowjetischen Soldaten zum Kampf mobilisiert wurden. Im Zentrum der Anlage ein vielleicht 20 Meter hoher, aus einem Felsbrocken gehauener Männerkopf. Zornig-wildentschlossener Blick. Friedensworte

„Kompliziert sind die Beziehungen zwischen unseren Völkern. Wir dürfen nicht vergessen, was die Deutschen uns zugefügt haben. Aber die Bürger unseres Landes verstehen, daß jetzt eine Zeit der Verständigung beginnt, der Volksdiplomatie, der Zusammenarbeit.“ Die Vertreterin des Friedenskomitees ruft ins Mikrofon. Etwa 300 Passanten haben sich inzwischen im Halbkreis versammelt. „Ich danke Ihnen allen, daß wir in Ihr Land kommen durften. Schon einmal kamen Deutsche in die Sowjetunion. Damals kamen sie, das Gebiet zu erobern, das Volk zu vernichten.“ Der evangelische Pfarrer und ehemalige Rußlandkämpfer benennt quälend genau seinen damaligen Auftrag. Die Übersetzung dehnt die Worte noch. Alte Frauen in Wolljacken mit verschränkten Armen weinen, ohne daß sich ihre Mienen verzögen. Die deutschen Besucher schluchzen, nehmen russische Kinder bei der Hand.

Dann russische Gastfreundschaft kurz vor Mitternacht. Kaltes Büffet in der Methodistengemeinde in Brest. Holzvertäfelte, kathedral-große Kirche, lange Reden, Pläne über Gesuche her und hin, Bitte um russische Bibeln; selbstgebackene Kekse, frische Melone. Bad in der Herzlichkeit der Gastgeber.

Solche Begegnungen in der Sowjetunion suchen protestantische Gruppen seit einigen Jahren. Sie wollen damit Politikern und Kirchenleitungen vorgreifen, die immer noch, zumindest öffentlich, verdrängen, daß der Rußlandfeldzug ähnliche Ziele hatte wie der Massenmord an den Juden und mit ähnlicher krimineller Energie durchgeführt wurde. Da auf den Krieg des Kampfes der kalte Krieg gegen die Sowjetunion folgte, konnten die Verbrechen der Deutschen in der Sowjetunion ins Verlies der Verdrängung abgeschoben werden. Gedenkstätte der Opfer

Chatyn, die Gedenkstätte 60 Kilometer nordöstlich der belorussischen Hauptstadt Minsk. Die Gruppe geht die letzten zwei Kilometer zu Fuß, „politische Pilgerfahrt“. „Das war das härteste, was ich je erlebt habe“, wird Helmut Schirge später sagen. „Schon auf diesem Weg kamen mir Bilder, Szenen des Krieges, aber als ich dann das Gelände sah, die Schornsteine, da war es aus. Ich habe geheult wie noch nie. Daß Menschen so etwas machen können...“

Chatyn war bis zum 22. März 1943 ein Dorf mit 26 Gehöften und 150 Einwohnern. Dann kam das SS-Kommando Dirlewanger. „Vielleicht haben sie noch gelacht und gescherzt und wußten schon, was sie tun würden“, überlegt Schirge.

Die deutschen Soldaten trieben die Menschen aus ihren Häusern, trieben sie in der Scheune zusammen, übergossen sie mit Benzin und zündeten sie an. Wer fliehen wollte, erklärt der Reiseleiter, wurde erschossen. 76 Kinder brachten die Deutschen hier um. Ein Mann nur überlebte. Josef Kaminski. Sein Denkmal, schwarz, ungeschlacht, eine Leidensfigur, überragt den Eingang der Gedenkstätte. An Stelle jedes Gehöftes, an Stelle jedes Schornsteins steht ein Glockenturm. Alle dreißig Sekunden läuten in Chatyn die Glocken. Auf dem Turm eine Tafel mit den Namen der Opfer des jeweiligen Hauses. Lena - acht Jahre; Anna - vier Jahre; Michail - zwei Jahre.

Chatyn ist eine Gedenkstätte der Opfer. Wie dieses Dorf, wie Lidice in der Tschechoslowakei, wie Oradour in Frankreich, haben deutsche Truppen in Weißrußland 619 Siedlungen vernichtet. In Bajki sollen sie die Männer erschossen, die Frauen in der Scheune verbrannt und auf die Kinder Schäferhunde gehetzt haben. 186 Dörfer wurden nicht wiederaufgebaut. Für sie ist in Chatyn ein Friedhof angelegt. Gläserne Urnen, in rot-schwarzem Stein gefaßt, als Grabstein der Name des Ortes und des Bezirks in großen Lettern. Die Gruppe aus der Bundesrepublik legt Blumen nieder. Auch im Gedenken an Konzentrationslager. 260 KZs haben die Besatzer in Belorußland eingerichtet. Eines für 2.000 Kinder. Sie dienten den Soldaten als Blutspender.

Drei Birken im Zentrum der Gedenkstätte stehen als Symbole des Lebens. An Stelle der vierten Birke brennt ein ewiges Feuer zur Erinnerung an jeden vierten Belorussen, der zwischen 1941 und 1945 starb. Die Gruppe bildet einen Schweigekreis. Jemand liest einen Psalm. Das Schweigen ist stärker.

Minsk ist das Industriezentrum von Belorußland und hat 1,7 Millionen Einwohner, die ganze Republik zehn Millionen auf einer Fläche, die knapp der der Bundesrepublik entspricht. Die Hauptstadt wurde nach dem Krieg praktisch neu gebaut, da die Wehrmacht sie am 26.Juni 1941 ab neun Uhr morgens in 45 Minuten zerstörte. Nach dem Krieg standen noch zehn Häuser, von den 250.000 Einwohnern hatten 40.000 überlebt. Volksdiplomatie

Hotel „Tourist“ in Minsk. Konferenzsaal. 30 Männer und Frauen auf dem Podium. Verdiente der Sowjetunion. Graue Anzüge. Gedeckte Kostüme. Orden. Im Saal die deutsche Gruppe. Lila Tücher. „Volksdiplomatie“. Der Abend des Friedenskomitees für die „politischen Pilger“.

Belorussische Kriegsveteranen, eine ehemalige Partisanin, ein Zwangsarbeiter, eine Schauspielerin und Kämpferin für den Frieden, Wasil Bykau, der Schriftsteller, Arbeiter, Professoren - das Podium wird vorgestellt. Dann Reden über die Tragödie beider Völker. Das, was war, sei nie wieder. Hilfsappell für die Opfer von Tschernobyl, das etwa 300 Kilometer südlich von Minsk liegt. Nun deutsche Reden. Die Gäste bespiegeln sich selbst. Philosophieren laut über die Tugenden eines „politischen Pilgers“, der mit offenem Blick, offenen Händen, offenem Herzen käme, Schuld einzugestehen und fürderhin für friedliche Beziehungen mit der UdSSR einzutreten. Laute Bekenntnisse auf tönernen Füßen. Die sowjetischen Gesprächspartner übergehen die Äußerungen; sie sind offenbar Unsicherheit bei Nachfahren der Täter gewöhnt.

Leisere Töne in den nächsten Tagen. Besuch in einer Schule: Ein zehnjähriges Mädchen singt auf Deutsch das Ave Maria. Gespräch mit Studenten: Einer kann den Eingangsmonolog des Faust auswendig. Abschied von einer der Dolmetscherinnen: Sie dankt mit einem Gedicht von Heine. Das wirkt nicht einstudiert. Deutsche Kultur ist vielen Russen präsent, was wiederum den Besuchern aus der Bundesrepublik beschämend deutlich macht, wie groß dagegen ihr Nachholbedarf an Kenntnissen über die Sowjetunion und ihre Völker ist.

Noch ist der Blick dafür nicht frei. In einer kleinen Runde, die Trauerarbeit versucht, machen sich ehemalige Soldaten klar, daß sie sich angesichts der Überlebenden in Belorußland zum ersten Mal tiefer mit den Opfern ihres Feldzuges beschäftigen. Langsam verzahnen sich persönliche Rückschau und politischer Ausblick: Der evangelische Pfarrer und ehemalige Rußlandkämpfer sagt einem Interviewer des belorussischen Fernsehens, er wolle zu Hause seine Nachbarn überzeugen, daß der Nato-Stützpunkt in ihrem Dorf in Hessen überflüssig sei, denn gegen die Menschen in der Sowjetunion brauche man sich nicht zu verteidigen, sie seien Freunde. „Sie waren Opfer und wollen das nie wieder sein“, fügt Andreas Seiverth hinzu, der jetzt das militärische Sicherheitsbedürfnis der UdSSR verstanden hat.

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