: Das Joint-venture der „Ossietzkys“ in Kreuzberg
■ Die Schüler der Carl von Ossietzky-Schulen in Berlin-Pankow und Kreuzberg trafen sich zu einem Tag der Begegnung
Deutsch-deutsche Begegnungen werden nach der unverhofften Öffnung der Grenzen nun zunehmend geprägt vom Bemühen, einander kennenzulernen. Schulen bilden dabei keine Ausnahme. Doch zu viele Vorbehalte und Wertvorstellungen in Jahrzehnten aufgebaut - machen es, trotz grenzüberschreitender Möglichkeiten, nicht leicht, Schranken zu beseitigen. So mußte der Name des großen deutschen Liberalen Carl von Ossietzky herhalten, um die Begegnung zweier Berliner Schulen quasi zu legitimieren. Was lag also für die Leitung der Kreuzberger Carl von Ossietzky-Schule näher, als in der Hauptstadt der DDR nach der gleichennamigen Schule zu suchen und Schüler der Pankower Erweiterten Oberschule - ebenfalls nach Ossietzky benannt einzuladen.
Nachdem die „Ost-Ossietzkys“ in einem Akt neuer DDR -demokratischer Gepflogenheiten die 20 Vertreter aus den 11.und 12.Klassen per Los ermittelt hatten und von der Schulleitung aktenkundig belehrt wurden (kein Alkoholgenuß und ordentliche Benutzung der Verkehrsmittel), ging es dann am vergangenen Donnerstag in Begleitung zweier Lehrer endlich los. Für den angebotenen Politunterricht hatten Schüler zur allgemeinen Belustigung, aber auch, um stolz die revolutionäre Erneuerung im Lande zu dokumentieren, ein jetzt ungültiges Staatsbürgerkundelehrbuch eingesteckt. Kuriosum für die Pankower: Das eigentliche Schulgebäude der „West-Ossietzkys“ ist wegen festgestelltem gesundheitsschädlichem Asbest geräumt worden.
Eine bedächtige Hospitation war aber nicht im Sinne der „West-Ossietzkys“, die natürlich auch etwas von ihren DDR -Besuchern haben wollten. So blieb den „Ost-Ossietzkys“ kaum Zeit, das Erscheinungsbild - mehr als die Hälfte der Schüler sind Ausländerkinder, zumeist Türken - und die ungewöhnlich legere Unterrichtsführung zu beobachten. Sitzordnung und Disziplinlosigkeit der Gleichaltrigen, aber auch die Gelassenheit der Lehrer - eine andere Welt. Während des Unterrichts zum Thema „Arbeitsrecht in der BRD Wirtschaftsreform in der DDR“ dann die Aufforderung zu einem für die DDR-Abiturienten kaum praktizierten Rollenspiel: Die Gründung eines Joint-ventures in der DDR mit mehrheitlich westlicher Kapitalbeteiligung. Die verschiedenen Interessengruppen (Investitionsmanager des Westens, DDR -Betriebsleitung, Gewerkschaft, Betriebsparteiorganisation und Facharbeiter) bestehend aus jeweils drei bis vier Schülern hatten mit- und gegeneinander einen hocheffektiven Betrieb herzurichten. Da wollten die „Manager“ aufgrund ihrer Mehrheit und der Gewißheit, daß ohne deren Kapital nichts mehr läuft, die alte unfähige DDR-Betriebsleitung ab und lieber gleich West-Manager einsetzen und der Gewerkschaft die Mitsprache verweigern. Die DDR -Betriebsleitung vertrat hingegen den Standpunkt, bei derartigen Bedingungen keine gemeinsamen Unternehmen zustande kommen zu lassen und sich freundlichere Kapitalgeber zu suchen.
Bei allem Engagement im Rollenspiel schlich sich bei den Pankower Schülern ein gewisses Unbehagen ein: Erstens mag niemand gern als armer Schlucker hilflos dastehen - und zweitens stimmten die Vorstellungen der Kreuzberger in erstaunlich wenigen Punkten mit den eigenen Erfahrungen, Argumenten oder Auffassungen von sozialistischen Betrieben und vermeintlichen Gruppeninteressen überein.
Gemeinsamkeiten zwischen den DDR-deutschen und türkischen Ossietzky-Schülern stellten sich schnell her. Von den Westberliner Schülern hatten dagegen nur einige die Gelegenheit genutzt, den Ostlern aus dem anderen Berlin ihren Kiez vorzustellen. Bei Kaffee und Kuchen war dann in der Wohnung der Mathelehrerin Zeit zu Plauderei und einer ersten Wertung. Einig waren sich die „Ost-Ossietzkys“ zur Verwunderung der anwesenden Schüler und Lehrer, daß das hier erlebte allgemeine Niveau im Unterricht doch erheblich niedriger sei als zu Hause. Insbesondere in Mathematik und Biologie zeigten sich Leistungsunterschiede, ganz im Gegenteil zum Leistungskurs Chemie, meinten die Pankower. Gleich nach den DDR-Winterferien soll es ein nächstes Treffen in Pankow geben.
Jörg Bergmann (Pankow)
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