: „Einheit in nationaler Solidarität“
Eine hochkarätige Tagung der Akademie in Tutzing erhielt unversehens politisches Gewicht / Genscher für einen Vertrag über den Weg zur deutschen Einheit, aber gegen die Ausdehnung der Nato nach Osteuropa ■ Aus Tutzing Klaus Hartung
„Neue Antworten auf die deutsche Frage“ wurden gestern und vorgestern im Angesicht des Starnberger Sees gesucht. Die Initiative zu dieser Tagung in der Evangelischen Akademie in Tutzing ging von Antje Vollmer und Günter Grass aus. Sie war ein Versuch, der Wiedervereinigungseuphorie entgegenzuarbeiten.
Das Treffen in Tutzing hatte unversehens politisches Gewicht bekommen, allein schon durch die Teilnahme des Bundespräsidenten von Weizsäcker und seines Bruders, durch die Anwesenheit von Willy Brandt, Burkhard Hirsch, Jürgen Schmude, Hildegard Hamm-Brücher, Heinrich Albertz und Antje Vollmer, auch durch die Anwesenheit der Schriftsteller Monika Maron, Günter de Bruyn und Günter Grass.
Auch die DDR-Opposition war prominent vertreten: Jens Reich, Ludwig Mehlhorn, Konrad Weiss und Ibrahim Böhme. Allerdings rückte die leise Skepsis der DDRler, ihre offene und kluge Ratlosigkeit und ihr ideologisch unbelasteter Umgang mit dem Begriff der deutschen Einheit eigentlich nie ins Zentrum der Diskussion.
Wichtiger waren zwei Ereignisse: Tutzing wurde von Genscher als Podium benutzt, um auf die jüngste deutschlandpolitische Erklärung von Gorbatschow zu antworten. Außerdem kam endlich Günter Grass dem permanenten Nachruf der 'FAZ‘ auf die deutschen Linksintellektuellen nach und sagte sich vehement von der Vereinigungslust der deutschen Politiker los. Für ihn ist der deutsche Einheitsstaat eine „frühgeschaffene Voraussetzung für Auschwitz“ gewesen und: „Wer die deutsche Frage sucht, muß Auschwitz mitdenken“. Er warnte voller Dramatik vor einem 80-Millionen-Land mitten in Europa, „das selbst bei einem Versuch, leise zu sprechen, laut vernehmlich wäre“. „Dieses Vaterland verrate ich schon jetzt.“ Seine Vorstellung: eine Konföderation, die eine „gemeinsame Verantwortung als Kulturnation“ fördert. Notwendiger erster Schritt: die wirtschaftliche Stabilisierung der DDR durch einen Lastenausgleich. Die Forderung danach war zwar Konsens in Tutzing, aber die Begründung und politische Tragfähigkeit des Begriffs selbst blieben strittig. Auch die direkte Verknüpfung des deutschen Einheitsstaates mit Auschwitz bereitete vielen Bauchschmerzen.
Wiewohl Antje Vollmer die Tagung als Intervention gegen das „Druckmachen der alten Männer“ in Sachen Einheit verstanden wissen wollte und insbesondere Willy Brandt deswegen wütend angriff, nutzten die alten Männer diese Tagung für ihre Politik.
Der Außenminister beschwor die Dramatik der DDR-Situation, stellte eine Sofortpolitik unter dem Stichwort „Einheit in nationaler Solidarität“ vor. Die „Vernetzung des Lebens“ beider deutscher Staaten habe begonnen, müsse vorangetrieben werden bis hin zur Finanzierung eines DDR -Sozialversicherungssystems. All das könne jetzt schon geschehen. Aber: „Neues Denken“ sei auch in der BRD notwendig. Die Einheit von unten fordere eine Belastung des westdeutschen Steuerzahlers, wobei „manches Ja zur Einheit noch auf den Prüfstand“ komme. Nach der DDR-Wahl am 18. März stehe ein „Vertrag über den Weg zur deutschen Einheit in Europa“ für beide deutsche Staaten auf der Tagesordnung. Ein neutrales Deutschland kommt für ihn dabei, wie auch den Politikern Brandt und Stoltenberg, nicht in Frage. Die BRD solle weiterhin im Nato-Bündnis bleiben, aber: die Nato solle erklären, daß es „keine Ausdehnung des Nato -Territoriums nach Osten“ gebe. Ein Widerspruch, den Genscher durch Staatskunst bewältigen will. Der Außenminister will die Sorgen der Sowjetunion durch eine gesamteuropäische „Stabilitätspartnerschaft“ und durch eine „neue Architektur des KSZE-Prozesses“ ausgeräumt wissen.
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