Die Wiesen in der Wüste

■ Spielen(d) lernen in Las Vegas

Spielen(d) lernen in Las Vegas

Das Angebot für einen Wochenendausflug nach Las Vegas war verlockend. Der Preis inklusive Transport von und nach Los Angeles, Leihwagen vor Ort und zweier Übernachtungen in einem Hotel der Luxusklasse war kaum teurer als eine Butterfahrt zur Insel Helgoland.

Eine Viertelstunde nach dem Start wurde mir klar, daß die Fluggesellschaft bereits jetzt auf ihre Kosten kam. Statt die sonst üblichen Cocktails zu servieren, zogen die Flugbegleiter mit fahrbaren Roulettetischchen durch den Kabinengang, und die meisten Passagiere zückten wie selbstverständlich ihre Geldbörsen. Während 8.000 Meter unter uns der Schatten des Flugzeuges über die Mojave-Wüste huschte, versuchten sich die ersten darin, das Wochenende durch Spielen zu finanzieren. Die Stewardessen wurden zu fliegenden Croupiers und machten auf dem einstündigen Flug sicherlich mehr Gewinn als durch den Verkauf zollfreier Waren. The American Way to Pay

In der Ankunftshalle des McCarran International Airport begrüßten mich die ersten der insgesamt 80.000 „einarmigen Banditen“ von Las Vegas, die einen auf Schritt und Tritt bis fast auf die Toilette verfolgen. Es sind die beliebtesten Spielautomaten, weil sie bereits bei einem geringen Einsatz losschnurren. Schon eine Vierteldollar-Münze versetzt die drei Zahlenwalzen mit den Zitronen-, Kirsch- und Glöckchenreihen in Bewegung. Mit dem Griff zum seitlich angebrachten Hebel glauben die Spieler das Glück in der Hand zu halten: den „Jackpot“, den Höchstgewinn von zehn Dollar, ausgespuckt in vierzig quarters.

Unschlüssig wie eine Kugel beim Roulette, die zwar in einer vorgeschriebenen Bahn rollt, aber nicht weiß, wo sie zum Stehen kommt, fahre ich mit dem Leihwagen den Las Vegas Boulevard hinunter. Schon die Autofahrt durch die Stadt stimmt unmerklich auf das Roulettespiel ein: Die Parkplatzflächen sind in dem Straßenraster so plaziert wie die Zahlenfelder auf dem Spieltisch - so die Analyse des amerikanischen Architekten Robert Venturi in seinem Buch Lernen von Las Vegas. Verstärkt wird die Zufallsentscheidung durch eine abwechselnde Mittelspur, die auch einfaches Linksabbiegen zu den Glücksspieltempeln ermöglicht.

Auf dem berühmten und berüchtigten vier Kilometer langen strip, wie die „Route 91“ auf diesem Stück genannt wird, liegen die meisten Hotels und Kasinos, die mit Lichtzuckungen und überdimensionierten Reklametafeln in den schrillsten Neonfarben um die Gunst der Kundschaft buhlen 1988 reisten 18 Millionen Besucher nach Las Vegas! Meist kommen Unterkunft und Vergnügen im Doppelpack, denn jeder Hotelname steht für eine in sich geschlossene Welt inklusive aller nur denkbaren Variationen von Unterhaltung, Restaurants und Läden. Es sind Stätten mit klangvollen Namen, bei denen die Träume von Reichtum, märchenhafter Wüste und geheimnisvollen Legenden aus Tausendundeinernacht mitschwingen: Alladin, Caesars Palace, Circus Circus, Dunes, Flamingo Hilton, Mirage, Sahara, Stardust und Tropicana. Free Dinners for Winners

Das Prinzip der Verlockung ist überall dasselbe. Die Fassade protzt mit Versprechungen („Hottest Slots in Town“, „Free Dinners for Winners“), deren Übergröße auch proportional zur dahinter stehenden Leere ist. Innen gibt es keine Lobby, keinen Empfangstresen wie bei einem herkömmlichen Hotel, keinen Übergangsbereich zwischen Innen und Außen, sondern man verfängt sich sofort in den Armen des Riesenkraken Las Vegas, der zum Spielen zwingt.

Es ist die Geräuschkulisse der slot machines, ihr ohrenbetäubendes Geklacker vom Ausspucken der Münzen. Hier hängen Hunderte an den „einarmigen Banditen“. Die Gewinne prasseln in Plastikbecher von der Größe kleiner Papierkörbe, welche die Leute mit sich herumtragen. Höher wird der Einsatz bei den Kartenspielen, bei Craps, einem Würfelspiel an einem rouletteähnlichen Tisch, oder bei Blackjack und den komplizierteren Spielen wie Psi Gow Poker und Baccarat (Mindesteinsatz 20 Dollar), die nicht per Schnellkurs im hauseigenen Kabel-TV-Programm zu erlernen sind.

Die Kasinos sind perfekt durchgestylte Irrgärten, die das Zurechtfinden unmöglich machen: Wasserfontainen, Wandelgänge und Labyrinthe wechseln sich ab mit unzähligen Spieltischen. Dazu Cocktailgirls mit superlangen Beinen („Can I get you a drink“) und über allem eine ununterbrochene sirupartige Berieselung mit „Airportjazz“, der in aller Welt verbreiteten Fahrstuhlmusik. Anstelle von Stufen sind fast überall Rampen für Rollstuhlfahrer eingebaut worden, damit auch sie sich spielend fortbewegen und ihr Geld ausgeben können. Ununterbrochen action, rund um die Uhr. Kein Winkel, in dem nichts passiert. Keinerlei Orientierungsschilder, keine Uhren und kein einziges Fenster. Das hilft, einen künstlichen Raum zu etablieren, in dem das Zeitgefühl wie aufgelöst erscheint. Die Wahrnehmung kann sich an keiner Außenwelt mehr orientieren. Ein vollklimatisiertes Tiefseeaquarium, dunkel und grell zugleich. Hier ist man zur Schlaflosigkeit verurteilt, aber wegen der direkten Befriedigung menschlicher Bedürfnisse kommt ja auch niemand nach Las Vegas: Nur noch das Spielen zählt. Aufstieg in die Römerzeit

In Caesars Palace transportieren Förderbänder, wie sie zwischen verschiedenen Terminals auf Flughäfen im Einsatz sind, die potentiellen Spieler von der Straße direkt vor die Kasinotische. Die Röhren wirken wie time tunnels in die Römerzeit - und gleichzeitig zurück, in die Hochburg der kapitalistischen Freizeitgestaltung: die Spielbank.

Von weitem betrachtet hat der Gebäudekomplex den Charme einer Hochhausgarage. Doch aus der Nähe entpuppt er sich als ein griechisch-römischer Tempel, zu dem die Touristen pilgern. Da geben sich die Antike und „Old Europe“ als Statuen ihr Stelldichein: der reitende Mark Aurel, Bacchus, Nike, Augustus von Primaporta und Michelangelos David. Alles aus reinstem Marmor, in Bronze gegossen oder in Gips nachgeformt. Kleopatra ist sogar wiederauferstanden und lustwandelt lebendig zum Anfassen und Fotografieren durch das „Olympic Casino“. Jetzt dürfen die vollautomatischen Kompakt-Kameras klicken, denn ansonsten herrscht in den Kasinos strengstes Fotografierverbot, um die Anonymität zu gewährleisten.

Dieses Hotel der Superklasse verfügt über 1.600 Zimmer und Suiten, in denen alles vom Feinsten ist. Das Etablissement ermöglicht eine Dekadenz, die selbst das Leben der Patrizier im alten Rom als vorsintflutlich deklassiert. Aber auch hier ist der Luxus nur Kulisse für das endlose Spiel der Einsamen. Die Attrappen und Verzierungen in den riesigen Hallen des Geldes sind die imitierten Spuren der Vergangenheit, die es gar nicht gibt. Wie überall jagt ein Superlativ den nächsten, so etwa der hot slot, der nur vergoldete Hundertdollar-Jetons schluckt. Der Jackpot ist entsprechend groß, doch nur wenige werden über Nacht zum Millionär - wie zum Beispiel Yong Ketron, eine Hausfrau aus Detroit. Sie gewann am 11. Dezember 1986 im Reich des Cäsars 2.599.552 Dollar. Auf Schatzsuche

Schon im vorigen Jahrhundert war Las Vegas eine Quelle, allerdings natürlicher Art. Wegen zweier artesischer Brunnen ließen sich hier Mormonen nieder, wo dann ab 1904 die Dampfloks auf dem Weg von Salt Lake City nach Los Angeles einen Zwischenstop einlegten. Der Name Las Vegas stammte noch von den Spaniern: las vegas - die Wiesen.

Nachdem das gambling 1931 im Bundesstaat Nevada legalisiert worden war, kam kurz nach dem Zweiten Weltkrieg der Gangster Benjamin Sigels, genannt „Bugsy“, auf die Idee, einen als Mississippidampfer getarnten Amüsier- und Bordellbetrieb hier in der Wüste stranden zu lassen. Er „besiegelte“ damit die Zukunft des ehemaligen Mormonendorfes, das 1940 gerade 8.000 Einwohner zählte, indem er das Spielen „verindustrialisierte“. 1946 errichtete er sein Hotelkasino „Pink Flamingo“, einen Luxusschuppen, in dem sich die Reichen aus Los Angeles vergnügen sollten. Zwar wurde er schon wenige Jahre später erschossen, doch sein Rezept überlebte: bestes Show-Biz, höchster Komfort und niedrige Übernachtungspreise, die durch die Gewinne des Kasinos wieder ausgeglichen werden.

Nach diesem Prinzip entstand ein Hotelkasino neben dem anderen zu beiden Seiten des strips, und schon in den frühen fünfziger Jahren hatte Las Vegas den Ruf, die größte Spiel- und Showstadt Amerikas zu sein. Heute stehen 45.000 Hotel- und 17.500 Motelzimmer zur Verfügung. Im Großraum Las Vegas leben fast 700.000 Menschen, und achtzig Prozent der Arbeitskräfte finden eine Anstellung in der Kasinobranche.

Außerdem floriert das Geschäft mit Hochzeit und Scheidung, ein Anruf genügt („One phone call is all it takes“). Durchschnittlich lassen sich 67.000 Paare pro Jahr in einer der dreißig kitschigen wedding chapels trauen, wie schon vor ihnen Joan Collins, Frank Sinatra, Eddie Fisher, Elizabeth Taylor und Bruce Willis („all mayor credit cards honores“). In diesen Miniaturkirchen im Disneylandstil gibt es Hochzeiten vom Fließband. Besonders an beliebten Feiertagen wie Neujahr, am Valentinstag und im Juni fahren die verlängerten Lincoln-Limousinen 24 Stunden am Tag vor die Traualtäre. Zehn Minuten später wird den frisch Vermählten die fertige Videokassette mit der „Zeremonie“ am Ausgang überreicht („extra charge: 90 Dollar“). Auch die Formalien sind denkbar unkompliziert. Ein Aufgebot ist nicht erforderlich. Benötigt wird nur eine marriage license, die das Clark County Clerk's Office für 27 Dollar ausstellt: täglich von acht Uhr morgens bis Mitternacht, an Wochenenden sogar rund um die Uhr. Disneyland in the Desert

Diejenigen, die sich Las Vegas tagsüber mit dem Auto nähern, finden eine völlig andere Stadtlandschaft vor: Diese Oase mitten in der Wüste entsteht aus dem Nichts, der strip wirkt so irreal wie das Negativ einer Fotografie, das sich erst mit dem Sonnenuntergang zum Positiv entwickelt.

Wie kein vergleichbarer Ort in den Vereinigten Staaten wurde diese Stadt in den letzten fünfzig Jahren zur Spielwiese von Millionen - mit Milliardenumsätzen. Hier spielt eine Nation mit sich und ihren Träumen. Die Gäste befinden sich nur auf der Durchreise, sie mieten sich für wenige Tage in einem der Hotels ein, begeben sich auf Schatzsuche und hoffen, Glück und Geld zu finden.

Den öffentlichen Platz, der sonst in den Städten der USA nicht exisitert, die „Piazza“, gibt es hier in den Kasinos. Dort befindet sich der ideale Raum, um Amerika zu beobachten und ihr beim Spiel über die Schulter zu schauen.

In den verschiedenen Kasinos von Las Vegas sind alle Schichten vertreten. Im Gegensatz zu den Spielkasinos der italienischen und französischen Riviera, die den Privilegierten vorbehalten bleiben, kann in Las Vegas jeder spielen; es gibt keinen Kleiderzwang.

Hier kommen die Einsamen zusammen, die Reichen im privaten Learjet und die Rentner, die für ein Wochenende in Las Vegas gespart haben. Die Hausfrauen aus dem Mittleren Westen, die schwarzen Frauen, die auf Tina Turner machen, die Magersüchtige und auch der Übergewichtige, der mit seinem überladenen Teller vom all you can eat buffet nur auf zwei Stühlen gleichzeitig Platz nehmen kann. Alle Typen sind hier repräsentiert, vom pensionierten Eisenbahner bis zum Möchtegern-Schwarzenegger. Es ist ein Quer- und Durchschnitt eines Volkes, doch das Übermaß von normalen Durchschnittsamerikanern sticht hier ins Auge.

Nirgendwo kann man sich so perfekt ablenken lassen, den kleinen und den großen Sorgen entfliehen, wie in Las Vegas. Hier ist die Bühne für die besten Stars im Showbusiness, allen voran „Siegfried and Roy“, dem Unterhaltungsduo im „Mirage“. Für den spielenden Touristen geht hier an einem Wochenende der Wunschtraum in Erfüllung, wenigstens einmal ein Gewinner zu sein; er wird in dem Glauben gelassen, winner und nicht looser zu sein - auch wenn er verliert, ist es ja nur Spiel. Keiner von denen, die mit mir am Sonntag das Flugzeug besteigen, das uns zurück in den amerikanischen Alltag befördert, dürfte mehr Geld in der Tasche haben als auf dem Hinflug. Die einzig wirklichen Gewinner in Las Vegas sind immer die Kasinos. Ihr Reingewinn betrug im letzten Jahr allein drei Milliarden Dollar.

Till Bartels

Vorabdruck aus dem im März erscheinenden Band „Kalifornien und die Westküste“ des Elefanten Press Verlages, Berlin