: „So geht's nicht mehr weiter“
Interview mit dem Gorbatschow-Antipoden Igor Ligatschow ■ D O K U M E N T A T I O N
taz: Vor dem Hintergrund der Krise im Kaukasus und im Baltikum, der schwierigen Wirtschaftslage und des Autoritätsverlusts von Partei und Staat wächst in der öffentlichen Meinung die Sorge wegen der Unregierbarkeit der UdSSR. Teilen Sie diese Besorgnis?
Igor Ligatschow: Ich muß das bejahen. Die Sorge, daß unser Land unregierbar wird, verbreitet sich immer mehr, und sie ist leider auch sehr begründet. Ich möchte nicht überheblich im Namen des gesamten Volkes sprechen, aber ich treffe und höre jeden Tag viele Menschen und ich erkenne, daß die Unruhe sich immer mehr ausdehnt. Der Grund dafür ist nicht schwer zu verstehen. In unserem Land ist das Wichtigste stets das Vertrauen auf das Morgen, der Grundwert war immer die Sicherheit der Zukunft: für sich selbst, für die Kinder, für die Freunde, das Vaterland. Darin bestand der sowjetische Sozialismus, genau darin. Doch genau das wird nun heute faktisch in Frage gestellt. Das ist nicht hinnehmbar, das darf nicht so weitergehen.
Was schlagen Sie vor, um die Krise der Sowjetunion unter Kontrolle zu bringen?
Ich denke, daß das kommende Plenum (gemeint ist das am Montag beginnende ZK-Plenum; Anm. d. Red) das Problem angehen muß, und ich denke auch, daß es das tun wird, indem es eine konkrete Antwort darauf gibt. Sicher ist allerdings schon jetzt: Wir müssen eine ideale Ordnung wiederherstellen, eine Einigkeit, innerhalb derer sich das Land und die Partei wiederfinden können. Die Einigkeit ist für uns ein unverzichtbarer Wert, in Form der Einheit der UdSSR und der Kommunisten. Und da muß ich anmerken, daß viele Exponenten der Partei und selbst einige ihrer Führer nicht nur den nationalistischen Bewegungen nachgeben, sondern sogar in aller Offenheit an deren Spitze marschieren. Ich denke, daß diese Leute die KP verlassen und etwas anderes tun müssen. Nur so kann die Perestroika vorankommen, eine demokratische, aber auch sozialistische Perestroika. Das ist meine Position.
Stimmt es, daß Sie auf dem letzten Plenum über diese Forderungen hinausgegangen sind und den Einsatz des Militärs gegen die nationalistischen Bewegungen, speziell im Baltikum, gefordert haben?
Eine absolute Lüge, ein perfektes Beispiel der Lügen, die sie über mich verbreiten. Ich habe diesem Plenum gemeinsam mit Michail Sergejewitsch vorgesessen, und wenn ich mich erhoben habe, dann nur, um den angemeldeten Rednern das Wort zu erteilen. Dann habe ich auch das Wort ergriffen, aber nur um absolut ruhig mitzudiskutieren, so wie ich das mag und wie ich es immer mache, zumindest gegenüber Leuten, die Argumente vorbringen. Doch nie habe ich die Gewaltanwendung und die Unterdrückung gefordert.
Haben Sie die Intervention der Roten Armee in Baku unterstützt?
Ja, und ich bin bis heute davon überzeugt, daß das die einzige Möglichkeit war, dort die Gewalt, das Blutvergießen und die Pogrome zu stoppen. Der Staat - und das gilt für jeden Staat - ist gehalten, sich und seine Bürger zu verteidigen. Ich glaube sogar, daß man den Entschluß zum militärischen Eingreifen schon früher hätte treffen sollen.
Nach den dramatischen Ereignissen von Baku und nach der separatistischen Erklärung Litauens sprach man von einem dramatischen ZK-Plenum , das als eine Art Bilanz zu einer Generalabrechnung führen soll. Mittlerweile heißt es auch, daß der Parteikongreß (der KPdSU, Anm. d. Red.) vorgezogen wird, in den Mai oder Juni. Stimmt das?
Ich denke, ja. Und ich möchte dazu sagen, daß ich dieses Nachvorneziehen des Parteikongresses auch für notwendig halte. Wir werden dort über alles sprechen. Es ist klar, daß die Partei wieder die Initiative übernehmen muß - sie kann nicht hinterherzuckeln; und gerade deshalb können wir es uns nicht erlauben, bis in die letzten Monate des Jahres zu warten. So denke jedenfalls ich. Stattdessen hüllen sich nun diejenigen in Schweigen, die vorher ein Nachvorneziehen des Kongresses um jeden Preis gefordert hatten. Die wollen das nun ganz und gar nicht mehr.
Ist denn die Partei schon bereit zu einem so baldigen Kongreß, der noch dazu bereits zweimal nach vorne gezogen wurde?
Ja. Sie muß dazu bereit sein und ist es meiner Meinung nach auch. Man muß die Situation beherrschen.
Sie reden, als sei die Partei noch immer das Zentrum von allem. In den vergangenen Tagen hat es hier jedoch starke Gerüchte gegeben, wonach es zu einer Machtverdoppelung an der Spitze der UdSSR kommen wird, mit Gorbatschow als Präsidenten, aber nicht mehr als Generalsekretär der Partei. Am Mittwoch hat Gorbatschow das dementiert. Ist das Problem damit erledigt oder nur verschoben?
Auf dem ZK-Plenum wird es, wie Michail Sergejewitsch erklärt hat, solche Rücktritte nicht geben. Die Frage stellt sich im Augenblick nicht, denn sie ist unnütz. Ich darf dazu sagen, daß man im Politbüro nicht einmal darüber gesprochen hat.
Könnte die Macht-Verdoppellung auf dem Kongreß beschlossen werden?
Das kann man prinzipiell nicht ausschließen. Aber es ist kaum vorauszusagen, was auf dem Kongreß passiert, der ja noch weit voraus liegt. Derzeit jedenfalls gibt es das Problem nicht.
Sie haben immer die Führungsrolle der Einheitspartei verteidigt. Denken Sie nicht, daß das Problem des Parteienpluralismus auf dem Kongreß unweigerlich aufkommen wird?
Sehen Sie: Meine Position ist im Augenblick und in der derzeit konkreten Situation unseres Landes höchst einfach und klar. Die UdSSR braucht heute eine starke, einige und einzige Partei. Eine kommunistische Partei.
Aus: 'la Repubblica‘ vom 2.2.90
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