piwik no script img

Der Kiwi lernt wieder das Fliegen

Neuseeland hängt am Bande: „Bungy-Jumping“, Urvertrauen in 1.100 Gummibändchen  ■  Aus Taupo Bernd Müllender

Kiwis sind an unserem Weltenende gemeinhin nur als vitaminstrotzende Früchtchen bekannt. Eigentlich jedoch handelt es sich beim Kiwi um einen Vogel, einen sehr merkwürdigen zudem: Überaus tolpatschig staksen und stolpern sie, nur des Nachts, scheu durch den neuseeländischen Busch, mit ihrem voluminösen Körper und einem exorbitant langen, dünnen Schnabel. Weil sie 70 Millionen Jahre in ihrer einsamen Existenz nie Feinde hatten, haben sie längst das Fliegen verlernt, OrnithologInnen rühmen ihren vogeluntypisch starken Geruchssinn und das wohlentwickelte Zipfelchen des Kiwimännleins.

Diese bodenständige Vogelspezies hat die europäischen Eindringlinge vor 150 Jahren so sehr beeindruckt, daß sie den Kiwi zum Wappentier Neuseelands erkoren und sich bald schon, gar nicht mal ironisch, sondern stolz, nach ihm benannten: „Wir, die Kiwis von down under.“

Da wir spätestens seit den Piloten Dädalus und Ikarus wissen, wie sehr der Mensch sich nach der Flugfähigkeit sehnt, will es uns nicht verwundern, daß auch Kiwis fliegen wollen, die menschlichen Patenkinder jedenfalls. Und weil der Flugsport nun mal dem Wesen eines Kiwi zutiefst widerspricht, haben sie eine Disziplin erfunden, die ihresgleichen sucht: Bungy-Jumping. Es ist jenes selbstmörderisch anmutende Springen von hohen Brücken in möglichst tiefe Tiefen, dabei die Beine festgebunden an einem elastischen Gummiband, das zwar den Sturz erlaubt, den Absturz jedoch federnd verhindert.

Volkssport in Kiwi-Land

Bei uns zeigte 1978 zum ersten Mal der Neuseeländer Hackett in der Tagesschau, wie man sich kunstvoll aus 100 Metern Höhe von einer Plattform des Eiffelturms abgummit. Heute ist Bungy-Jumping Volkssport im Kiwi-Land: An die 30.000 sind seit Anfang 1988 in diverse Abgründe gesprungen: Alle haben überlebt.

Queenstown, Touristenzentrum der neuseeländischen Südinsel: eine halbe Autostunde entfernt eine enge Schlucht, eine uralte Brücke über den Cardrona River. Hier fing das kommerzielle Stürzen an. Hier verdient sich die Alan Hackett Company schwindelig durch die schwindelerregenden Sprünge. Zeitweilig stehen die Leute Schlange an der kleinen Holzplattform auf der Brücke. Jeder wird exakt gewogen, entsprechend wird die Länge des Bandes eingestellt, fest um die Füße gebunden, und ab geht's für 85 Kiwi-Dollar (90 Mark) 45 Meter tief kopfüber. Das fast unterarmdicke Bündel aus 1.100 dünnen Bändchen federt kurz vor dem Wasser aus, auf Wunsch auch etwas später, mit Eintauchen. Die Fehlertoleranz, sagen die Verantwortlichen, liegt bei unter einem Meter, und das auch nicht durch Ungenauigkeit der Berechnung, sondern je nach Absprungheftigkeit. T-Shirt und Zertifikat („hat jeglichen Bezug zur Wirklichkeit und allen Verantwortungssinn verloren, als er/sie sich herunterschleuderte...“) gibt es nachher gratis dazu.

An schönen Wochenendtagen springen über 100 dieser mutwillig Mutigen pro Tag. Besonders gern kommen ganze Busladungen japanischer Touristen, um als besonders engagierte Hüpfer die Kamikazetradition ihrer Vorfahren neu zu beleben. Wenn sie, ausgependelt in ein Boot abgelassen, unten abgeknüpft werden und zurückkommen, stammeln sie meist unverständliches Zeug: Wahnsinn. Verrückt. Unglaublich. Toll. Einfach unbeschreiblich sei das Gefühl. Manche lachen, fassen sich begeistert an den Kopf, manche zittern noch: glückselig über ihren riesigen Sprung über die große Angst in die eigentlich lächerliche Tiefe. Der Adrenalinschub verwirrt kurzzeitig alle Sinne: Mit nichts anderem auf dieser Welt, sagen sie, sei Bungy-Jumping zu vergleichen. Andere berichten Tage später von Alpträumen oder einem mehr erquicklichen Flashback. Am Gummi neue eigene Grenzen erkennen und vor allem überwinden, sagen andere, sei ein Weg zur Selbstfindung und keineswegs plumpe Abenteuerlust und Imponiergehabe einer von stumpfsinniger Büroarbeit oder Arbeitslosigkeit gelangweilten Generation.

Bungy-Jumping ist nur in Neuseeland offiziell erlaubt. Kontrollen und Lizenzvergabe sind Sache des Labour Department. Alle hundert Sprünge muß aus Sicherheitsgründen das Gummiband (Kosten: 900 Dollar) ausgetauscht werden. Profis haben den Sport längst weiterentwickelt: Sie springen paarweise, vom Helikopter, auf dem Mountain Bike; in Australien (wo es verboten ist) aus der Drahtseilbahn über besonders gigantischen Abgründen. Keiner will ausgeschlossen sein: Einer ging im Rollstuhl ab, die Älteste war volle 80, einer hüpfte mit Gipsbein nach einem Skiunfall („sonst kann ich ja jetzt nichts machen“), andere sprangen nackt.

Kein Nulltarif

Das war in Queenstown bis zum vorigen Jahr sogar umsonst schließlich aber trauten sich immer mehr, und der geschäftsschädigende Nulltarif wurde eingestellt. Dafür kann man sich jetzt für 200 Mark per Hubschrauber zum Skippers Canyon hochfliegen lassen, über 90 Meter geht der Galasprung runter und per Schnellboot kehrt man dann zurück in die aufrechte Welt der Schwerkraft.

Wer nicht wie Hackett längerfristig einige Brücken gepachtet hat, hilft sich anders. Am Lake Taupo steht ein gigantischer Kran, der über die fünfzehn Meter hohe Klippe zum See gehievt wird und so auch rund 45 Meter Absprunghöhe erreicht. Greg Brown, ein 28jähriger Aucklander, der vor einem Jahr von der Karriereleiter abgesprungen ist, macht hier das Bungy-Business. 6.000 Dollar, klagt er, koste allein die Anfangslizenz, und der Kran komme ihn nur günstiger, weil der seinem Vater gehört und der auch gleichzeitig selbst der Kranführer ist: „Da haben wir finanziell halt eine besondere Vereinbarung.“ Neun Sprungfirmen gäbe es mittlerweile in Neuseeland, manche mit mehreren Brücken und Kränen. Er könne zwar allmählich davon leben, „aber verrückt verdient haben sich die, die als erste da waren. Warum macht das noch niemand in Germany?“

Unfälle, Verletzte? Einmal habe jemand vorübergehend seinen Gleichgewichtssinn verloren, konnte drei Stunden nicht mehr freihändig gehen. Ein anderer sei auf eigenes Risiko vom Brückengeländer statt von der Plattform gesprungen, da stimmte die Berechnung nicht, er wurde zurück gegen die Unterseite der Brücke geschleudert: Arm gebrochen, Hautabschürfungen... Aber nicht bei ihm und überhaupt: Nie sei etwas Ernstes gewesen.

Also, fragt Greg, es gäbe keinen Grund, Angst zu haben. Da ist nur die natürliche Scheu zu überwinden. Kollege 'Zeit' -Redakteur Theo Sommer hat von seinem Sprung vor einem Jahr im Politikfeature seines Blattes begeistert berichtet. Also: Wiegen! Zehn Stones und etwas, die Gummiwurst einklinken, rauf geht der Kran. Wie hoch läppische 45 Meter sein können. Nicht denken, nicht runtergucken. Die Welt scheint Meilen entfernt. Kann man was falsch machen? „Nein, nichts“, sagt schlicht der Helfer. Wie beruhigend. Türchen auf, und Countdown, damit man quasi springen muß. Das Wasser, „fünf“, ist so, „vier“, bedrohlich weit, „drei“. Ich muß verrückt sein, „zwei“, Kiwis können doch gar nicht fliegen, „eins, null“. Und hopp.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen