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Neutralität als Ausweg?

Zur Perspektive zukünftiger europäischer Sicherheit gibt es mehr Fragen als Antworten  ■ K O M M E N T A R

Deutschland, wenn schon vereint, dann wenigstens neutral und entmilitarisiert - zwar immer noch ein Koloß von 80 Millionen Menschen, aber zumindest militärisch gezähmt? Der Vorschlag Modrows, den Schewardnadse nun noch einmal bekräftigte und ausführlich begründete, scheint auf den ersten Blick verständlich. Die Angst der UdSSR vor einem vereinten Deutschland mit einer dann 600.000 Mann starken, hochgerüsteten und technisch äußerst effizienten Armee bedarf keiner langen Erklärungen. Sollte diese Armee dann auch noch, wie einige Stahlhelmer von der CDU/CSU es wohl gerne sähen, insgesamt der Nato zugeschlagen werden, dürfte die Toleranzschwelle der sowjetischen Militärs endgültig überschritten sein. Die Folgen wären gar nicht auszudenken.

Was ist da naheliegender, als die Demilitarisierung und Neutralität zur Voraussetzung für die deutsche Einheit zu machen? Das Problem ist die Perspektive. Der Vorschlag oder auch die Forderung - hat keine. Das liegt zum einen daran, daß Neutralität und Demilitarisierung in der jetzigen Situation weder von der UdSSR noch gar von der noch existierenden DDR-Regierung erzwungen werden können. Das wäre vielleicht vor fünf Jahren noch möglich gewesen, heute aber ist es pures Wunschdenken. Viel wichtiger ist: Die Forderung nach dem neutralen, entmilitarisierten Deutschland entspringt der alten Blocklogik und setzt die langfristige Existenz der beiden Militärblöcke voraus. Denn nur dann wäre ein neutrales Deutschland ein Beitrag zu Stabilität, weil die Integration nur eines deutschen Teiles in ein Militärbündnis das Gleichgewicht zwischen den Blöcken notwendigerweise zerstört hätte. Allein die weitere Existenz der beiden Blöcke könnte auch garantieren, daß das entmilitarisierte neutrale Deutschland auch auf Dauer entmilitarisiert bleibt. Davon kann ja nun beim besten Willen nicht die Rede sein. Der Warschauer Vertrag ähnelt schon jetzt mehr einer Fiktion als einem real existierenden, funktionsfähigen Militärbündnis, und die Nato verliert damit spiegelbildlich an Legitimation. Beides ist gut so und sollte jetzt auch nicht künstlich konserviert werden. Modrow hatte zumindest mit seiner Feststellung recht, daß der Kalte Krieg endgültig vorbei ist. Damit hat er aber zugleich die Begründung geliefert, warum der Vorschlag eines neutralen Gesamtdeutschlands obsolet ist - diese Option war immer eine Karte im Kalten Krieg.

Ähnliches gilt aber auch für die westlichen Strategen. Die Wehrkundetagung in München lieferte kein neues Denken, sondern beschränkte sich auf die platte Forderung, die Bundesrepublik müsse selbstverständlich Nato-Mitglied bleiben, allenfalls die heutige DDR könne zur entmilitarisierten Zone erklärt werden. Da zeigt sich viel Status-quo-Denken, selbst wenn die USA derzeit beteuern, sie hätten allergrößtes Interesse am Erfolg Gorbatschows und wollten die Schwäche des Warschauer Pakts nicht zu einseitigen Geländegewinnen nutzen. Das amerikanische Insistieren auf den Verbleib der BRD in der Nato hat aber noch einen anderen Grund. Das westliche Militärbündnis war immer zweierlei: ein Zusammenschluß gegen die UdSSR und ihre Verbündeten und ein Instrument zur Kontrolle der Deutschen. Es ist ja kein Zufall, daß der Austritt aus der Nato und der Wunsch nach Neutralität gerade auf der äußersten Rechten zum Standardrepertoire außenpolitischer Vorstellungen gehören. Doch auch die Nato wird über kurz oder lang nicht mehr sein, was sie knapp vierzig Jahre lang war. Die Frage ist also nicht Neutralität ja oder nein, Nato ja oder nein, Warschauer Pakt ja oder nein. Die Frage ist, was kommt danach, und wie wird ein vereinigtes Deutschland in die europäische Nachkriegsordnung eingebunden - nicht nur ökonomisch, sondern vor allem auch militärisch.

Zwei Fragen sind dabei zu beantworten: Welche Rolle werden Nationalstaaten in Europa zukünftig noch spielen, und wofür braucht Europa überhaupt noch Militär? Die Antwort auf beides ist zur Zeit noch durch ein Kürzel ersetzt: KSZE. Gorbatschow, Genscher und nach längerenm Zögern nun auch die US-Administration verweisen auf eine Treffen der KSZE -Staaten im Herbst dieses Jahres. Dieses Treffen kann eine große Chance sein. Die Voraussetzung wäre allerdings, daß Vorschläge einer europäischen Friedensordnung auf den Tisch kommen, die der neuen Situation wirklich gerecht werden und mehr Substanz haben als die jetzt kursierenden alten Hüte in neuer Verpackung.

Jürgen Gottschlich

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