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Frau Irene schweigt zum Mittendrinsein

Frau Irene SCHWEIGT ZUM TURBOWAHNSINN

Man kann spätestens jetzt nicht umhin, über die Frage ins Grübeln zu verfallen, ob denn unsere fünf wissenschaftlich verbürgten Sinne für die notwendige Erfassung der Jetztzeit zureichend ausgelegt sind. Die Sache jüngst mit Tschernobyl, dessen Bösartigkeit man damals auch nicht riechenschmeckenfühlen konnte, war in dieser Beziehung vergleichsweise schlicht: Da uns hier in Berlin zur Prüfung der tödlichen Sinn-Losigkeit eh nichts anderes übrigblieb, als auf eine späte womögliche Krebszukunft zu warten, von der dann immer noch nicht klar sein würde, welchem Initialstrahl sie sich zu verdanken hat, geriet die Entdeckung des fehlenden Sinns eher zur Selbsterfahrungsbereicherung und zum Anlaß philosophiler Kleinschriftstellerei.

Nun aber der Schrecken mit dem Zeitzeugentum. Als alles noch so war wie immer, fand man ja manchmal, es könnte ruhig was passieren, und man würde mal gerne so richtig mitten drin im Passierenden und dabei sein. Man dachte dabei weniger an einen Vulkanausbruch oder Verkehrsunfall, an ein Attentat (Sarajewo!) auch nur höchstens aus zehn Metern Entfernung; aber auf jeden Fall: aufregend sollte es sein, nicht weh tun. Und trotzdem wäre man ein Held oder eine Heldin, einfach durchs Dabeigewesensein.

Und jetzt fällt uns MetropolitInnen so ein Wunschding mit allem Drum und Dran und ohne Verletzungsrisiko in den Schoß. Aber was ist? Nichts ist! Man mag inzwischen schon gar nicht mehr zugeben, daß man in Berlin wohnt, weil alle Nichtberliner Pawlowschen Hunde der Welt ins Hecheln geraten: Wahnsinn! Da habe man es aber gut! Wie es denn so sei, mitten im Ereignisstrudel drin! Westdeutsche TelefonvoyeurInnen hätten gern eine kleine verbale Videoshow, quasi einen Mitschnitt der Historie. Liegt man verträumt am fernen Kanarenstrand und verrät sich sprachlich, dann benötigt die expatriierte Neugier gar nicht mehr das Paßwort Berlin, da genügt schon: Mensch, da müsse ja jetzt was los sein bei uns in Deutschland!

Man kann aber doch nicht mit aufgewärmter Leidenschaft zum x-ten Mal die Geschichte mit der Mauer und den Löchermachern erzählen, auch wenn man die nun wirklich und wahrhaftig selber knapp hinter der Wohnungstür am Werke gesehen hat. Zumal die Frager derlei ja tausendmal erregender in medialer Zeugenschaft verschlungen haben. Und sonst? Man solle doch nicht so verstockt tun, wo man schon das Privileg des Mittendrinseins habe. An was denn der/die andere da so denke, fragt man, inzwischen längst verzagt. Na, halt an den Wahnsinn, der jetzt bei uns abgehe! Aha, der Wahnsinn also! Ja der muß wohl wo sein, zumindest hat auch die themensüchtige Verwurstungskultur ihn längst ausgemacht (siehe nebenstehende Spalte) und postwendend zum Projekt erklärt.

Die eingeschüchterte, wo doch akkreditierte Zeitzeugin fragt sich nun ernsthaft: Womit gucken die? Oder andersherum: Wie übt man die Tätigkeit des Zeitzeugin-Seins befriedigend und erfolgreich aus? Welcher Sinn ist dafür zuständig? Fest steht ja, daß alle medialen Realitätenhändler mit diesem Sinn ausgestattet zu sein scheinen: nichts geht zur Zeit so gut wie der Software -Mobilienhandel in Sachen historische Wende. Die sinnlose Zeitzeugin liestsiehthört jeden Tag davon.

Allmählich allerdings verdichtet sich in ihr der Verdacht, daß es mit dem metropolitanen Turbowahnsinn ähnlich ist wie mit des Kaisers neuen Kleidern. Leibhaftig gesehen hat ihn keiner!

Christel Dormagen

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