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„Nicht in ausreichendem Maß Einzelheiten erzählt“

■ Ein 38jähriger Krankenpfleger, der wegen Vergewaltigung vor Gericht stand, wurde freigesprochen / Die beiden Frauen hatten die Tat erst ein halbes Jahr später angezeigt / Dem Richter waren die Aussagen der Frauen zu dünn / Widersprüche in den Aussagen

Mit einem Freispruch ging gestern der Prozeß gegen einen 38jährigen Krankenpfleger des Jüdischen Krankenhauses zu Ende, der wegen zweifacher Vergewaltigung einer Schwesternschülerin vor Gericht stand. Das Urteil wurde von dem Vorsitzenden Richter der 15. Strafkammer, Reinwarth, damit begründet, daß in dem Verfahren „Aussage gegen Aussage stand“ und die Schwesternschülerin dem Gericht „nichts geboten“ habe, um „die Widersprüche erklärbar zu machen“. Der Staatsanwalt hingegen hatte die Aussage der Zeugin „gut nachvollziehen“ können und für den Angeklagten eine Haftstrafe von viereinhalb Jahren gefordert.

Wie berichtet, war dem Krankenpfleger Johann R. in dem Prozeß ursprünglich noch eine weitere Vergewaltigung einer anderen Schwesternschülerin zur Last gelegt worden. Nachdem das Verfahren am zweiten Verhandlungstag abgetrennt worden war, weil eine wichtige Zeugin nicht erreichbar war, wird sich Johann R. demnächst erneut vor der 15. Strafkammer wegen Vergewaltigung verantworten müssen.

Die 24jährige ehemalige Schwesternschülerin hatte gestern vor der Urteilsbegründung bei Nachfrage des Gerichts noch einmal bestätigt, daß sie von dem Angeklagten im Mai/Juni 1986 zweimal vergewaltigt worden sei. Einmal in einem nichtbelegten Einzelzimmer auf der chirurgischen Männerstation und wenige Wochen später im Auto des Angeklagten. Wie berichtet, hatten Angelika O. und ihre Mitschülerin Carola P. die in Rede stehenden Taten erst im Dezember 1987 einer Lehrschwester gemeldet. Die Schülerinnen hatten dies damit begründet, kein Interesse an einer Strafanzeige gehabt zu haben. Sie hätten bei der Krankenhausleitung lediglich erreichen wollen, daß auf die Station 5 keine Schwesternschülerinnen mehr eingesetzt würden. Der von der Krankenhausleitung zur Rede gestellte Pfleger R. hatte die Taten bestritten und bei der Kripo Anzeige wegen falscher Verdächtigung erstattet und somit selbst das Verfahren gegen sich in Gang gesetzt.

Das Gericht begründete den Freispruch gestern damit, daß Angelika O. „nicht in ausreichendem Maße Einzelheiten des Geschehens erzählen konnte“. „Wenig verständlich“ fand der Vorsitzende Reinwarth auch, daß die Zeugin zu dem Angeklagten ins Auto gestiegen sei, obwohl sie von diesem angeblich schon einmal vergewaltigt worden sei. Es fehle auch eine „Erklärung“ dafür, daß sie „nach dem schrecklichen Erlebnis per Anhalter mit einem fremden Mann mitgefahren“ sei. Als Widerspruch bezeichnete Reinwarth auch, daß die Zeugin bei ihrer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung ausgesagt hatte, sie habe die erste Vergewaltigung kurz danach einem Kollegen offenbart, dieser habe in seiner Aussage aber von einem viel späteren Zeitpunkt gesprochen.

Die Verteidigerin hatte den beiden Schülerinnen in ihrem Freispruchplädoyer unterstellt, daß sie in den Angeklagten „vermutlich verknallt“ gewesen seien und ihm bei der Krankenhausleitung aus unerwiderter Liebe „wahrscheinlich eins auswischen wollten“. Dem Staatsanwalt war „das Motiv Rache aus verschmähter Liebe“ zu billig. Auch die Vertreterin der Nebenklage hielt ein solch „durchtriebenes Komplott“ der Schülerinnen für ausgeschlossen. Bevor sie sich dem Antrag des Staatsanwalts anschloß, hatte die Nebenklagevertreterin das Gericht noch eindringlich darauf hingewiesen, daß es „keine Norm gibt, wie Frauen in diesen Situationen reagieren“.

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