: Philosophieren ist Sterbenlernen-betr.: "Erklärung der Berliner PhilosophInnen", taz vom 10.1.90, LeserInnenbriefe vom 6.2.90
betr.: „Erklärung der Berliner PhilosophInnen“, taz vom 10.1.90, LeserInnenbriefe vom 6.2.90
(...) Soweit also ist der akademische „rationale Diskurs“ geraten, daß sie meinen, über Fragen von Leben und Tod Entscheidungen fällen zu müssen.
Ursula Wolf schrieb: „Ein Recht auf Leben setzt den Wunsch nach Weiterleben voraus“. Das ist eine typisch verrationalisierte Denkweise, die zwar im Universitätsbetrieb verlangt wird, die aber vom Leben wenig versteht. Es ist ja überhaupt schon ein Problem, daß es den Satz „Recht auf Leben“ geben kann. Darin verbirgt sich unsere gegenwärtige Tragödie. Und „Wunsch nach Weiterleben“ können nach diesen üblichen Diskursmethoden nur erwachsene, rational erzogene, „vernünftige“ Menschen haben, weil „Wünsche-haben“ Reflexionsfähigkeit und „Wahlbewußtsein“ voraussetzt.
Kein Geborenes aber hat diesen „Wunsch“ nach Weiterleben. Es lebt, weil es lebt, weil es sich regt, weil es sich regen will. Auch ein total gelähmtes Baby kann etwas erleben, eine „innere Regung“ verspüren, als „Lebensregung“, als Lebensgefühl, sogar, wenn das Gehirn fehlt. Jedes Leben, das lebt, will auch leben, und hier verwende ich allerdings keinen wohldefinierten rationalen „Willensbegriff“, sondern einen vitalen Zustandsbegriff, der für alle Lebewesen gelten kann.
Wie könnt Ihr über etwas diskutieren, wozu Euch die Gefühle und Erlebnisse fehlen? Woher wißt Ihr, ob das gliederbehinderte Baby „sich quält“? Auch das hirnloseste Baby kann die streichelnde Hand spüren und sich wohl fühlen und damit sogar Schmerzen „überfühlen“. Und wieso müßt Ihr solche Fragen „entscheiden“? Niemand zwingt Euch dazu, außer Euer zwanghafter Diskursbetrieb und Euer Glaube an die Sprache, die den Schein von Frage- und Antwortspielen aufrecht erhält. Das Leben ist größer, als die PhilosophInnen bisher je zu denken imstande waren. Und außerdem: Während meines langjährigen Philosophiestudiums an verschiedenen Universitäten habe ich nicht einen vollständig „gesunden“ Philosophieprofessor und auch keine solche Philosophieprofessorin kennengelernt. Der eine stotterte, der andere schielte, der nächste war taub auf einem Ohr, einer hinkte, einer hatte 'ne Hasenscharte, einer war fast blind, einer lispelte, einer zuckte beim Sprechen mit dem Kopf, einer war dauernd von Migräne geplagt, einer verbrachte das halbe Semester regelmäßig in Irrenanstalten, einer litt unter Epilepsie und keine/r konnte einem gerade und offen in die Augen schauen und sich so recht des Lebens freuen.
Und sagte nicht schon Sokrates, daß Philosophieren nichts anderes sei, als die Vorfreude auf den Tod? „Philosophieren ist Sterbenlernen“. Nach Sokrates und der gesamten abendländischen Tradition, die auf Körperlähmung aus ist, hat also kein/e PhilosophIn ein Recht auf Leben, wenn der Wunsch nach Weiterleben Bedingung wäre, denn dieser Wunsch würde ihn/sie gerade als NichtphilosophIn disqualifizieren. Die abendländisch-sokratische Vernunftphilosophie hat sich immer gegen das „bloße kreatürliche Leben“ abgegrenzt und verweigert und Ihr tragt diese Tradition weiter, auch wenn Ihr meint, wohlmeinend „Leid zu vermindern“.
Das „Leben“ oder „Nichtleben“ ist keine Frage, die entschieden werden müßte, sondern eine Tatsache, mit der wir uns abfinden müssen. Auch unsere Vernunft ist behindert, wie schon Kant darzulegen versuchte, und vielleicht würden wir alle lebendiger werden und schöner leben, wenn wir uns bescheiden mit unseren jeweiligen Behinderungen untereinander austauschen und gegenseitig zu ergänzen versuchen würden. Das würde unsere Intelligenz unwahrscheinlich steigern und unsere Erkenntnisfähigkeit auch.
Annegret Stopczyk, „Berliner Philosophin“, aber ausgestiegen und freischaffend seit Tschernobyl
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