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Sünden der Edition

■ „Der Freund des Menschen“, Erzählungen von Primo Levi

Primo Levi ist wohl den meisten hierzulande bekannt als Autor des Berichts über seine Zeit in Auschwitz Ist das ein Mensch? und vielleicht auch durch die Kritik Jean Carl Amerys, der ihn den Verzeiher nannte. In der letzten Zeit erscheinen im Münchner Hanser Verlag nach und nach weitere Arbeiten dieses bedeutenden italienischen Schriftstellers, der sich im April des Jahres 1987 das Leben nahm. Sie werden deutlich machen, daß sich das Werk dieses Autors nicht in der mehr oder weniger literarischen Aufarbeitung seiner biographischen Erfahrungen erschöpft. Hier können die kleinen Erzählungen besonders hilfreich sein, von denen der Hanser Verlag in diesem Jahr unter dem Titel Der Freund des Menschen eine Auswahl herausgebracht hat.

Allerdings, der Hanser Verlag hat es durch seine Edition der Ezählungen dem deutschen Leser fast unmöglich gemacht, diesen Kontext zu erkennen.

Zunächst ein wenig Vorgeschichte: Im letzten Jahr hatte Hanser den Bericht Primo Levis über seine Zeit in Auschwitz, auf deutsch erstmals bei Fischer im Jahre 1961 unter dem Titel Ist das ein Mensch? erschienen, neu herausgebracht. Allerdings in völlig veränderter Form. Jetzt handelt es sich um einen Doppelroman, denn es wurde noch Die Atempause hinzugegeben. Das ist ein Text, der sich inhaltlich an den ersten Roman anschließt, er behandelt den Zeitraum von der Befreiung Auschwitz‘ durch die Russen bis zur Rückkehr Levis nach Italien. Doch die Abfassung der beiden Erzählungen trennt ein Zeitraum von 16 Jahren. Dazu muß man wissen, daß Ist das ein Mensch? bereits 1947 erstmals erschienen, aber in der Masse von Biographien, Berichten und Memorials untergegangen war. Erst die zweite Auflage von 1958 verschaffte dem Buch einen großen Erfolg. Und erst mit dieser „Wiedergeburt“ seines Romans fühlte Levi sich, wie er selber sagt, „befördert zum Schriftsteller„; erst jetzt sieht er in der Schriftstellerei seinen zweiten Beruf, in den „es ihm angebracht schien, die Methode des alten (Levi ist Chemiker) zu übertragen, nämlich wiegen, trennen, verbinden“. Insofern stellt die Hanser-Ausgabe von „zwei in einem“ (Ist das ein Mensch? Atempause) eine unzulässige Vermengung zweier klar unterschiedener Schaffensperioden dar und verät nur allzu deutlich den allein an der Fabel interessierten Blick der Editoren.

Aber der Verlag hat es nicht dabei belassen: Das Vorwort Levis zur deutschen Erstausgabe, das, nach Levis eigenen Worten, „als integraler Bestandteil des Textes gelesen werden“ muß, wurde gestrichen, weil angeblich, so der Verlagsleiter Michael Krüger, „total veraltet“. In jenem Vorwort hatte Levi unter anderem darauf verwiesen, daß er die Übersetzung mit dem Übersetzer durchgegangen war und daß er keinen Haß gegen die Deutschen hege, was ihm den oben zitierten Vorwurf von Jean Amery eintrug. Darüber hinaus wurden an der Übersetzung teilweise entstellende Änderungen vorgenommen, die, das wäre doch wohl das mindeste, in keiner editorischen Notiz nachgewiesen werden. Aber der Verlag mißachtete nicht nur den Autorenwillen, sondern er nutzte die Gelegenheit, um noch eine dritte Arbeit Primo Levis zu entstellen. Anstatt des alten Vorworts wird der Doppelband jetzt eingeleitet durch ein aus Primo Levis letztem BuchI sommersi e i salvati (Die Verlorenen und die Geretteten) herausgelöstes Kapitel.

Einmal ganz abgesehen davon, daß dieses letzte Buch, erschienen 1986 in Italien, 1987/88 zur Zeit des famosen Historikerstreits hochaktuell gewewesen wäre, es hätte als literarisch-politisches Vermächtnis von Primo Levi längst eine vollständige Edition verdient. Es ist abgeschmackt, sich einem der meistgelesenen und integersten Schriftsteller Nachkriegs-Italiens gegenüber so zu verhalten, als wäre sein Werk ein Steinbruch, den man beliebig zerlegen könnte.

Die jetzt vorliegende Zusammenstellung von Erzählungen beweist, daß der Verlag ungebrochen auf dem einmal eingeschlagenen Weg weitermachen will. Die Erzählungen sind aus drei italienischen Originalausgaben entnommen, nämlich:Storie naturali (1966), Vizio di forma (1971) und Lilit (1981). Darauf, daß die Storie naturali bereits einmal in einer vollständigen deutschen Ausgabe erschienen waren (1968 bei Wegener, Hamburg, unter dem Titel Die Verdoppelung der schönen Dame), fehlt jeder Hinweis. Überhaupt beschränkt sich die editorische Arbeit des Verlages auf einen kleinen Hinweis, welche Ezählung aus welchem Band stammt.

Ich will nicht dem Mythos vom Autor als einer absoluten Instanz und dem Werk als Emanation desselben frönen, aber wenn man aus verschiedenen Arbeiten auswählt, dann besteht doch - gegenüber den Intentionen des Autors und gegenüber seinem Werk - ein Begründungsbedarf. Im freundlichsten Fall sind es Gedankenlosigkeit, im weniger positiven verlegerische Habgier, die bei der hier vorliegenden Melange zur Vernichtung von Geist und Struktur zumindest des Bandes Lilit führen.

Wie Levi selbst sagte, greift dieser letzte Erzählband Themen und Tonlagen früherer Arbeiten wieder auf, nämlich von Ist das ein Mensch? sowie aus den beiden vorher erschienenen und auch in den deutschen Auswahlband eingegangenen Arbeiten mit fiktionalen Geschichten. Lilit ist in drei Abschnitte gegliedert, die die Titel „passato prossimo“ (Vorgegenwart), „futuro anteriore“ (Vorfutur) und „presente indicativo“ (tatsächliche Gegenwart) tragen, und enthält insgesamt 36 Erzählungen. In ihnen verdichtet sich die Vielschichtigkeit des Schreibens, zu dem Levi durch und aus seiner Erfahrung in Auschwitz fand. Nur fünf davon sind in den vorliegenden Band aufgenommen. Wenn bei der Neuveröffentlichung von Ist das ein Mensch? vom Hanser Verlag der Versuch unternommen wurde, einen Bericht über tatsächliche Erfahrungen in seinen politischen Dimensionen dadurch zu entschärfen, daß das Buch in den Kontext einer „Bibliothek der Erzähler“ gestellt wurde, dann bewirkt die Verstümmelung des Erzählbandes Lilit genau dasselbe Resultat.

Ein Beispiel. Kennt man den Zusammenhang, in den die Geschichte Ein geruhsamer Stern im Erzählband Lilit eingebettet ist, dann erhält sie eine neue, nicht auf den ersten Blick erkennbare Bedeutung. Mit dieser Geschichte wird der zweite Abschnitt von Lilit („futuro anteriore“) eingeleitet. Im ersten Abschnitt hatte Levi noch einmal das Thema der Vernichtung der Juden und ihrer Kultur aufgegriffen, aber auch den Willen und die Kraft zum Überleben. Gleich zu Beginn der Geschichte schreibt Levi: „Wenn diese Geschichte wirklich aufgeschrieben werden soll, dann muß man den Mut haben, sämtliche Adjektive, die Staunen hervorrufen wollen, wegzulassen: man würde mit ihnen nur den gegenteiligen Effekt erzielen, die Erzählung nämlich ärmer machen. Um über Sterne zu schreiben, ist unsere Sprache unangemessen, sie wirkt lächerlich, wie wenn man mit einer Feder pflügen wollte. Diese Sprache ist mit uns entstanden, (...) sie besitzt unsere Dimensionen, sie ist menschlich.“ (214). Erst durch den Kontext, in dem die Geschichte steht, wird deutlich: Der ruhige Stern und die Schwiergkeiten, ihn zu beschreiben, das ist eine der naturwissenschaftlichen Metaphern, die der Autor so liebt, und sie steht für jene Probleme, denen der Chronist der Grauen von Auschwitz sich gegenüber sieht. Aber wie soll man das in dieser Sammlung bemerken können, wenn sie unmittelbar auf eine Geschichte ausVizio di forma folgt. Die sind, nach Levis eigener Einschätzung, fast alles Geschichten, die als Geistesblitze während seiner Arbeit im Labor entstanden sind und deren Kraftfeld zwischen den Polen Mensch - Technik - Umwelt liegt.

Vollendet wird das editorische Zerstörungswerk schließlich mit dem geschmacklosen Titel. Eine sehr ironische Erzählung der Auswahl heißt Der Freund des Menschen, und gemeint ist damit ein Bandwurm, also ein Parasit. Bei der kriterienlosen und unbegründeten Auswahl von Erzählungen, die der Hanser Verlag hier präsentiert, deren einziger Zusammenhalt sich durch den Namen des Autors ergibt, da muß der Titel fast zwangsläufig als Attribut des Verfassers verstanden werden. Selbst die möglichen Mißverständnisse scheinen die Herausgeber nicht weiter beunruhigt zu haben.

Was soll man nun sagen, angesichts solcher Verlegerpraxis, die Rechte und Optionen auf Autoren akkumuliert, um sie dann, wie hier Primo Levi, als beliebig formbare Knetmasse für verlegerische Willkürentscheidungen zu betrachten? Wer den Autor Primo Levi mag und sein moralisches und literarisches Engagement achtet, der kann nur traurig darüber sein, in was für Hände er da gefallen ist. Diejenigen, die einigermaßen des Italienischen mächtig sind, kann man nur ermutigen, auf die Originalausgaben zurückzugreifen; dem, der kein Italienisch kann, wird wohl bis auf weiteres die integrale Version der drei Erzählbände Levis unzugänglich bleiben - und das in einer Zeit, da der italienische Verlag eine sorgfältige Gesamtausgabe herausbringt. Schließlich muß die Hardcover-Ausgabe noch als Taschenbuch umgesetzt werden usw., es ist das alte Lied.

Dennoch, selbst diese verstümmelte Sammlung von fantastischen - Ezählungen vermittelt noch einen Hauch von jenem Autor, der über diese Geschichte sagte: „Ich würde sie nicht veröffentlichen, wenn ich nicht bemerkt hätte, daß zwischen dem Lager und diesen Erfindungen eine Kontinuität, eine Brücke besteht: das Lager stellt für mich die größte 'Sünde‘ dar, die bedrohlichste, die der Schlaf unserer Vernunft hevorbringt.“

Ulrich Hausmann

Primo Levi: Der Freund des Menschen. Erzählungen. Hanser Verlag 1989. 243 Seiten. 34DM

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