: Der sexuelle Mißbrauch in der Therapie
■ Gespräch mit der Bremer Nervenärztin und Psychotherapeutin Elisabeth Pahl / „Das ist immer zum Schaden der Klientin“
Dr. med. Elisabeth Pahl ist Nervenärztin und Psychotherapeutin. Sie arbeitet außerdem als Lehrtherapeutin am größten deutschen Ausbildungsinstitut für Gestalttherapie, dem Fritz-Pearls-Institut. Im vergangenen Jahr initiierte sie in Bremen die Debatte über das, was sie den „sexuellen Mißbrauch der therapeutischen Beziehung“ nennt.
taz: Wie bist Du mit der Thematik 'sexueller Mißbrauch durch Therapeuten‘ in Berührung gekommen?
Elisabeth Pahl: Ich habe schon zu Beginn meiner Ausbildung Anfang der 70er Jahre gewußt, daß der Ausbilder mit einer Auszubildenden sexuelle Kontakte hatte. Dann hatte in einem Seminar eine Teilnehmerin mit dem Leiter eine Beziehung. Es wurde immer praktiziert, aber es war nie Thema, was das eigentlich für die Auszubildenden bedeutet. Ich habe es auch später von Kollegen gewußt. Und ich kenne auch für mich Situationen, wo ich nahe dran war, mich als Therapeutin in die Klientin zu verlieben.
Wenn Du von Auszubildenden redest, was sind das für Frauen?
Elisabeth Pahl: Das sind erwachsene Frauen - Psychologinnen, Ärztinnen, Sozialarbeiterinnen - die eine Psychotherapieausbildung machen. Danach habe ich aber auch von Patientinnen erfahren, die Beziehungen zu ihrem vorherigen Therapeuten hatten. Und es auch einmal bei einer Kollegin erlebt, die zu einer Klientin eine Beziehung eingegangen ist. Wobei feministische Therpeutinnen das offener und früher thematisiert haben.
Ich selbst bin zu dem für mich manchmal auch schwierigen Entschluß gekommen: Ich tue das nicht. Denn eine sexuelle Beziehung in der Therapie kann nie zum Wohle eines Klienten oder einer Klientin sein. Auch wenn die manchmal denken, das ist was Wunderschönes.
Wieso niemals zum Wohle der Klientin?
Elisabeth Pahl: Weil sie immer in einer abhängigen Beziehung zum Therapeuten steht. Und: Die Klienten kommen letztendlich in Therapie, weil sie Hilfe suchen und nicht Befriedigung. Sonst werden sie in der nächsten Beziehung wieder die gleiche Schwierigkeit haben.
Es gibt etliche Ehen, die aus Therapien entstanden sind.
Elisabeth Pahl: Ich denke, wenn eine Beziehung unter einem solchen Machtgefälle entsteht, dann wirkt sich das auch aus... Das hat eine ganz lange Tradition. Freuds Kollege Jung hatte zu seiner Klientin Sabina Spielrein eine Liebesbeziehung. Und von Fritz Pearls ist ähnliches bekannt.
Mal sagt der Therapeut, wenn sich jemand schwer entspannen kann: Leg Dich mal hin, und er legt seine Hand nicht nur auf die Schulter, sondern plötzlich auch auf den Bauch und an die Möse. Oder er sagt: Laß uns mal 'nen Kaffee trinken. Und erzählt: Ach, mir gehts so schlecht. Und er legt den Kopf an ihre Schulter und der Kopf rutscht langsam runter.
Was sagen die Zahlen?
Elisabeth Pahl: In den USA ist das Ergebnis - aus verschiedenen Untersuchungen: 'Zwei bis sechzehn Prozent der männlichen Therapeuten haben oder hatten sexuelle Kontakte zu ihren Klientinnen.‘ Das wäre jeder siebte Therapeut. Aber die Zahlen erfassen nur die männlichen Therapeuten, die das auch zugegeben haben. - Ich gehe davon aus, daß es bei uns genauso ist.
Bisher gibt es aber noch keine Möglichkeit, sich gezielt zu informieren?
Elisabeth Pahl: Nein. Aber Frauen können natürlich bei mir anrufen und sich beraten lassen. Es ist oft ein herbes Erwachen zu merken: Ich bin nicht die einzige. - In einem Kreis von Kolleginnen überlegen wir Möglichkeiten, wie Frauen sich im vorhinein über Therapeuten informieren können. Jede Frau, die in Therapie gehen will, muß wissen, daß Sexualität in der Therapie Mißbrauch ist.
Warum brechen nur wenige Frauen die Therapie beim ersten sexuellen Übergriff ab?
Elisabeth Pahl: Wenn Du davon ausgehst, daß jede vierte Frau sexuell mißbraucht ist... Gerade die mißbrauchten Frauen kennen oft ja nur Liebe und Anerkennung verbunden mit Sexualität. Und genau da verhält sich der Therapeut wie der mißbrauchende Vater. Und manchmal denken die Klientinnen auch, es sei etwas Besonderes, was sie ehrt. Wenn die Klientin zweifelt oder nein sagt, riskiert sie, daß er sich abwendet. Und sie würde, in der Übertragung, riskieren, daß ihr Vater-Therapeut sie ablehnt. Der Therapeut könnte sagen: 'Bist Du frigide?‘ oder: 'Zeig doch mal, daß Du eine richtige Frau bist! ‘ Er
wird die Weigerung als ihre Störung hinstellen. Außerdem würden Kollegen die Geschichte der Frau in die Schuhe schieben, die verführende Frau, Lolita, obwohl es ein Abhängigkeitsverhältnis ist.
Warum fällt es den Klientinnen auch lange nach der Therapie so schwer, Anzeige zu erstatten?
Elisabeth Pahl: Die Klientinnen ahnen ja auch, daß das nicht zur Therapie gehört. Wenn der Therapeut aber sagt, das ist richtig und gut, geben sie die Zweifel auf. Das macht nachher die Scham aus. Und sie fühlen sich schuldig und mitverantwortlich. Und es fällt schwer, den guten Therapeuten zu entidealisieren. Dann müssen sich Frauen auch eingestehen, daß sie sich Hilfe holen wollten und mißbraucht worden sind. Das bringt Frauen in eine Krise: Bringt denn überhaupt Therapie was? Oder: Werde ich in meinem Leben immer nur mißbraucht?
Ihr habt im vergangen Jahr einen Therapeuten aus Eurem Institut ausgeschlossen. Auf welcher Grundlage?
Elisabeth Pahl: Mehrere Ausbildungskandidaten haben uns zugetragen, daß ein Kollege mit Klien
tinnen schläft. Deshalb haben wir vom Vorstand den betreffenden Therapeuten befragt. Zum Beispiel auch: Ziehen sich die Frauen bei Dir nackt aus? Das hat er verneint. Ich habe das stark bezweifelt. Eine Klientin von ihm hat uns dann erzählt, es sei zu eindeutig sexuelle Berührungen in der Therapie gekommen. Diese Frau hat uns auch gesagt, daß die anderen aus Angst nichts gegen ihn aussagen wollen. Aufgrund der Aussage der einen Klientin haben wir den Kollegen aus dem Institut ausgeschlossen. Er hat keinen Wi
derspruch eingelegt. Ich denke, daß er in eine andere Stadt geht.
Gespräch: Barbara Debus
Zum Weiterlesen:
Anonyma: Verführung auf der Couch. Kore Verlag Freiburg.
Carotenuto Aldo, Sabina Spielrein: Tagebuch einer heimlichen Symmetrie (Briefwechsel Sabina Spielrein - Sigmund Freud C.G. Jung). Kore Verlag, Freiburg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen