: Buchhalter Lenin
■ Damianis historischer Film „Der Zug“ über Lenins Fahrt von Zürich nach Petrograd, Sonntag, ZDF, 21.30 Uhr
Einen Lenin zum Anfassen verkörpert Ben Kingsley in Damianis zweiteiligem 200-Minuten-Epos Der Zug, von dem morgen der erste Teil ausgestrahlt wird. Ruhig, besonnen, gütig und trotz seiner Beziehung zu zwei Frauen gleichzeitig kein bißchen machohaft. Ein Lenin, der in jeder Talkshow eine gute Figur abgeben würde.
Damiano Damiani, den „die Geschichte nicht besonders interessiert, schon gar nicht die sogenannten historischen Figuren“, der Lenin zwar als „großen Mann“ bezeichnet, dem Christus jedoch lieber ist, äußert in demselben Interview die Hoffnung, Lenin „getroffen zu haben, ihn glaubwürdig dargestellt zu haben“. Solch wankelmütiges Salbadern ist wahrlich keine günstige Voraussetzung für die Verfilmung der bedeutsamen historischen Zugfahrt Lenins Zürich-Petrograd.
Der ehemalige russische Revolutionär, Dr. Helphand, der sich durch Schiebereien ein Vermögen im Deutschland des Ersten Weltkrieges verdient hat, schlug 1917 den deutschen Generälen vor, ihren zermürbenden Zweifrontenkrieg gegen Frankreich einerseits und gegen das nachzaristische Rußland andererseits nicht mit kostspieliger Artillerie, sondern durch ein diplomatisches Kabinettstückchen zu gewinnen. Helphand unterbreitete den pikanten Plan, den im Schweizer Exil befindlichen Revolutionär Lenin quasi als Geheimwaffe nach Rußland zu exportieren, da man davon ausgehen könne, daß dieser nach erfolgter Revolution mit Sicherheit den Krieg von russischer Seite beenden würde. Auf diese Weise könnte sich die gesamte deutsche Schlagkraft auf die Westfront konzentrieren. Der Plan des deutschen Generalstabs ging auf. Die neuen russischen Machthaber brauchten Frieden, um sich innenpolitisch zu konsolidieren.
Die Emphase, die diesen weltpolitischen Ereignissen anhaftet, als die Revolution noch etwas Heiliges war, hätte den Regisseur zur feinfühligen Inszenierungsweise verpflichten müssen. Aus heutiger Distanz ist natürlich klar, daß die Revolution glückte, was damals mehr als ungewiß war. Wenn Lenin im ratternden Zugabteil in kammerspielartiger Intimität redlich seine Bedenken vorträgt, Genossen umsichtig vor blindem Übereifer bewahrt und schließlich in grüblerische Selbstzweifel versinkt, obwohl er doch weiß, daß er es mit dem Herzen hat (!), dann möchte man diesem wackeren, aufopferungsvollen Helden anerkennend auf die Schulter klopfen, ihm zuraunen: Nun mach mal hin, Junge, das klappt schon mit deiner Revolution!
Die politische Persönlichkeit Lenins reduziert sich auf die eines gewitzten, verschlagenen Buchhalters. Den Plot der historisch bedeutsamen Zugfahrt hat Damiani mit fiktiven Histörchen ausgeschmückt. Im Traum spricht Lenin mit seinem toten Bruder, der nach mißglücktem Attentat auf den Zaren gehenkt wurde. Wenn dann noch vom Genossen Bankräuber Stalin die Rede ist, weiß auch der Dümmste, daß hier Geschichte verhandelt werden soll.
Mit einem opulenten Budget von zwölf Millionen Dollar drehte der italienische Regisseur 1987 seinen nicht immer überzeugenden Historien-Schinken im Auftrag von ORF, ZDF, RAI II, TF1 und TVE. Natürlich muß das Geld wieder hereinkommen. Die Art der Umsetzung ist entsprechend zuschauerfreundlich. Nachdem Damiani ein Millionenpublikum davon überzeugte, daß man Allein gegen die Mafia gewinnen kann, wird dieses Publikum auch mit Lenin 203 Minuten um die Oktoberrevolution zittern.
Manfred Riepe
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