Quietschende Argumentation-betr.: "Einheit als Chance", taz vom 3.2.90 und "Keine Zeit für das andere Deutschland", taz vom 3.2.90

betr.: „Einheit als Chance“,

taz vom 3.2.90

Hartungs Argumenation quietscht an verschiedenen Stellen sehr bedrohlich und kann leicht aus den brüchigen Angeln gehoben werden.

Hartung behauptet in seinem Kommentar, daß es eine von der Vereinigung mit den Verhältnissen in der BRD nicht beeinträchtigte Chance gibt, dort Lebensbedingungen aufzubauen, die über den hier herrschenden Moloch hinausgehen. Aus seinem Ansatz folgt, daß alle in der DDR noch bestehenden strukturellen Grundlagen, die unter anderem die Chance enthalten, dort eine Wirtschaftsordnung zu errichten, in der die arbeitenden Menschen über das zu Produzierende bestimmen, für den Aufbau menschenwürdiger Strukturen unbedeutend sind und mit der „Niedervereinigung“ schnell und ohne Konsequenzen liquidiert werden können. Hartung kann seine Behauptungen bei oberflächlicher Betrachtung nur mit Sinn versehen, indem er auf andere Konflikte in der DDR-Gesellschaft hinweist, die auch nach der Vereinigung in ungeminderter Brisanz fortbestehen, und die dann den Kristallisationspunkt für „Ideen zu einer eigenen DDR-Reform“ darstellen sollten. Als Beispiele dienen ihm die Situation bei der Versorgung von Kranken, die Verkehrssituation, die vergifteten Regionen. In den Auseinandersetzungen, die um diese Probleme unzweifelbar auch nach einer Eingemeindung geführt würden, sieht der Schreiber das Potential zur Realisierung „linker Utopien“.

Hartung zeigt an dieser Stelle, daß er nicht einmal die Zeitung liest, in der er so häufig kommentiert. Die Tatsache nämlich, daß nach 15 Jahren einer, von einer breiten Basis getragenen Oppositionspolitik gegen eine lebensgefährliche Kernenergienutzung wieder bei Null anfangend ein Bauplatz in Gorleben besetzt werden muß, zeigt, daß eine an Einzelproblemen ansetzende gesellschaftliche Auseinandersetzung weder zu sozialen Utopien noch zu einer Lösung des Problems führt. Warum sollten die Auseinandersetzungen, unter den nach einer Wiedervereinigung gleichen gesellschaftlichen Machtverhältnissen, in der ehemaligen DDR einen anderen Verlauf nehmen?

Die von Hartung wie von Reich diagnostizierte „Tabula rasa“ in der DDR wird durch das westdeutsche Kapital nicht einfach „gefüllt“. Die Argumentation der WiedervereinigungskritikerInnen darauf zu reduzieren, ist eine bösartige Verflachung derselben. Infolge einer zur Zeit nur noch von wenigen, einflußlosen Menschen attakierten Wiedervereinigung würden noch schneller Schienen gezogen und Wälle aufgeschüttet werden, die dann die Auseinandersetzung mit Einzelphänomenen in der Gesellschaft, zum Beispiel mit der Nutzung der natürlichen Ressourcen, in einer Art und Weise ablaufen lassen, die ihnen jede Relevanz in Bezug auf die Frage, wie die Gesellschaft in ihren Grundlagen aufgebaut werden sollte, nimmt. Eine Hoffnung auf den Aufbau einer grundsätzlichen Alternative in der DDR bleibt nur bestehen, wenn dort die Chance erhalten bleibt, die in den noch bestehenden sozialistischen Produktionsverhältnissen steckt. Diese Chance eines allgemeinen Diskurses, der, an offensichtlichen Phänomenen wie der Umweltzerstörung ansetzend, Lösungsansätze entwickeln darf, die bis in die Produktionssphäre, also bis zur Frage nach wessen Interessen produziert wird, reichen, geht bei einer Wiedervereinigung noch schneller verloren.

Auch die Beurteilung der internationalen Auswirkungen einer Wiedervereinigung in Hartungs Kommentar ist unerträglich. Da schwurbelt er wieder, der Germanozentrismus, von einer Welt und den Deutschen, die endlich „von der deutschen Frage, dem Quell frustraner Unruhe befreit werden“. Von jenen Menschen und den ihnen folgenden Generationen, die unter den letzten, von Deutschland losgeschlagenen Kriegen gelitten haben, an deren berechtigten Ängsten allein die Frage nach einer schnellen Wiedervereinigung gemessen werden müßte, ist jedoch an keiner Stelle die Rede.

Knut Meyer, Kaiserslautern

betr.: dito und „Keine Zeit für das andere Deutschland“, taz vom 3.2.90

Eins muß man Hartung lassen: Gedankenakrobatik beherrscht er. Hier eingesetzt für den Verkauf einer Birne (Einheit als Chance) als Paradiesapfel. “...Warnung vor dem deutschen Zentralstaat ist berechtigt, auch wenn eine unvermittelte politische Argumentation mit Auschwitz kaum wirksam eingreifen wird.“ Eine groteske Sicht, die den Eindruck erweckt, den KritikerInnen wäre anzulasten, daß sich Politik und Moral in der BRD so weit von der „Aufarbeitung“ und Lehren aus der deutschen Vergangenheit entfernt haben. Unvermittelt ist allerdings der Einzug der Reps in den Berliner Senat nur wenige Monate nach dem „Erinnerungsnovember 1988“. Außerdem, läßt sich Auschwitz überhaupt im Sinne von Hartung vermitteln?

„Auf die DDR-Bevölkerung kommt die Notwendigkeit und das Eigeninteresse zu, sich für das Glück ihres eigenen Zusammenlebens engagieren zu müssen. Dieses Engagement allein wird letztlich die Leute an ihre Heimat binden.“ In diesem Zitat schimmern Arroganz und Angst des Autors durch. Eigeninteresse und Engagement bedürfen eigentlich des Müssens nicht. Müssen steht hier für „sollen“. Warum aber sollen die Leute überhaupt an ihre Heimat gebunden werden, wenn nicht deshalb, weil Klaus Hartung - und er steht hier stellvertretend - Angst vor ÜbersiedlerInnen und sinkendem Wohlstand hat. Die Schizophrenie, die darin liegt, einerseits die Wiedervereinigung zu wollen, andererseits den Ausgleich von relativer Armut und Wohlstand zu verhindern, zeichnet sich hier als weit verbreitetes Phänomen (Diskussion um Zuzugsbeschränkung) deutlich ab.

Begründete Befürchtungen vor einer Wiedervereinigung als „Alpträume der Gestrigen“ abzutun, stellt die Sachlage auf den Kopf. Diese Gestrigen waren und sind die, die vor einer Zukunft für die Vergangenheit warnen.

„Wird nun auch der Schlußstrich Kohls unter die deutsche Vergangenheit nachgeholt?“ Nachgeholt? Als wenn nicht HistorikerInnen-Debatte, das Aufkommen der neuen Rechten (inbegriffen die Übernahme wesentlicher Ideologien von ihnen durch die staatstragenden Parteien), das nationale coming out Augsteins und anderer RepräsentantInnen der BRD -Gesellschaft zeigen, daß die Wiedervereinigung allenfalls der krönende Abschluß des Schlußstrichs wäre.

Hubertus Illner, Soest