: Gorbatschow läßt den Deutschen freie Hand
■ Der Generalsekretär bestätigt Kohl, Weg und Zeitpunkt zur Einheit selbst bestimmen zu können
Mit weißem Krimsekt begossen Kanzler und Troß die „Erfolge“ ihrer jüngsten Stippvisite. Nach den Wahlen in der DDR soll über den Einigungsprozeß verhandelt, im Herbst die Ergebnisse der KSZE-Konferenz bestätigt werden. Vielleicht werden dann noch in diesem Jahr gesamtdeutsche Wahlen durchgeführt. Die Sowjetunion hat die Initiative in der Deutschlandpolitik aus der Hand gegeben.
Feierlich und fast gerührt verlas Bundeskanzler Kohl am Sonnabend abend um 22.30 Uhr im Moskauer Pressezentrum den Text: „Ich habe heute abend an alle Deutschen eine einzige Botschaft zu übermitteln: Generalsekretär Gorbatschow und ich stimmen darin überein, daß es das alleinige Recht des deutschen Volkes ist, die Entscheidung zu treffen, ob es in einem Staat zusammenleben will.“ Bis hierher doublierte der Kanzler im wesentlichen die sowjetischen Presseerklärungen der letzten Wochen und die Verlautbarung von UdSSR -Regierungssprecher Gerassimov, die dieser am selben Ort anderthalb Stunden zuvor verlesen hatte. „Recht dünn“, seufzten nach dessen Auftritt die aus Bonn eingeflogenen Journalisten, die das sowjetische Außenministerium seit 19 Uhr mit einem kalten Buffet bei Laune hielt, und verzweifelt suchten sie nach „atmosphärischen Versatzstückchen, die man schon vor dem Heimflug ausarbeiten könnte.
Und dann servierte der Kanzler doch noch einen entscheidenden „Sprung nach vorn“ in der sowjetischen Haltung zur Deutschlandfrage: „Generalsekretär Gorbatschow hat mir unmißverständlich zugesagt, daß die Sowjetunion die Entscheidung der Deutschen, in einem Staat zu leben, respektieren wird und daß es Sache der Deutschen ist, den Zeitpunkt und den Weg der Einigung selbst zu bestimmen“.
Diese Reise Kohls nach Moskau war die erste zu einer Reihe von geplanten Beschwichtigungsgesprächen, in denen der Kanzler die Sieger des Zweiten Weltkrieges davon zu überzeugen gedenkt, daß ein einiges Deutschland ihre Interessen nicht beeinträchtigen würde. „Von Deutschland muß Frieden ausgehen!“ war der Leitsatz dieser Pressekonferenz. In der 'Tass'-Meldung am Sonntag war von den „psychologischen Faktoren“ in der sowjetischen Bevölkerung die Rede, die bei der deutschen Einigung zu berücksichtigen seien.
Zukunft in der DDR
Dennoch hat sich die sowjetische Regierung überraschend schnell zu einem derart weitgehenden Entgegenkommen bereit gezeigt. Ganz klar war hier, ebenso wie auf bundesrepublikanischer Seite, der Wunsch ausschlaggebend, auf die innere Entwicklung in der DDR einzuwirken. Kohl zeigte sich beunruhigt über den „Exodus“ aus der DDR, der allein im Januar 55.000 Übersiedler in die Bundesrepublik gebracht habe - und der im Februar wahrscheinlich noch übertroffen werde. Eine „Ausblutung“ der DDR, gerade von den „wirtschaftlich interessantesten“ Kräften wolle er um jeden Preis verhindern: „Daß die Menschen in der DDR erkennen, daß dieses Land Zukunft hat, daß wir gemeinsam in Deutschland Zukunft haben... daß es sich auch wirklich lohnt, zu Hause zu bleiben, in der alten Heimat auch in Zukunft sein Glück zu finden, ich glaube, das ist die Botschaft des heutigen Tages - für viele in der DDR ein Signal, daß die dort gelegentlich aufkommenden Ängste unbegründet sind.“ Die Befürchtungen der sowjetisch-deutschen Gesprächspartner selbst richten sich auf die Wahlen in der DDR. Der 18. März ist ein Termin, bis zu dem man den dann möglichen „vollendeten Tatsachen“ zuvorkommen möchte.
So verwies Regierungssprecher Gerassimov auf die Frage, ob Deutschland sowjetischen Vorstellungen zufolge auch nach einer möglichen Wiedervereinigung noch in der Nato bleiben könne, auf das „Element der Unsicherheit“, daß die „Vorwahlsituation“ in der DDR mit sich bringe: „Heute ist ein konzeptioneller Rahmen für die Beziehungen der beiden deutschen Staaten untereinander abgesteckt worden. Alles andere muß sich im Verlauf der Ereignisse klären. So will ich heute nicht auf die Frage antworten, was aus den sowjetischen Streitkräften auf dem Territorium der DDR werden soll.“ Gerassimov äußerte sich nicht einmal explizit gegen die Möglichkeit, daß ein vereinigtes Deutschland noch in diesem Jahr zustande kommen könnte, während im Westen die amerikanischen Truppen und im Osten noch die Russen stünden. Launig scherzte er, die Ereignisse hätten sich ja bekanntlich in letzter Zeit so schnell entwickelt, daß nicht einmal die Kommentatoren der bundesrepublikanischen Presse sie hätten vorhersehen können.
Gerassimov bestätigte somit indirekt Informationen, denen zufolge die Neutralitätsforderung Hans Modrows für ein geeintes Deutschland bei dessen Moskau-Besuch nicht von der sowjetischen Regierung angeregt oder aufgenommen worden sei. Dagegen hatte Außenminister Schewardnadse noch am Freitag in einem Interview Modrows Forderung als „einzig vernünftige“ bezeichnet. Möglicherweise liegt in der Sowjetunion in dieser Frage eine ebensolche „kleine Differenz“ zwischen Außenminister und Präsident vor wie in der Bundesrepublik zwischen Außenminister und Kanzler bei der Formulierung zur polnischen Westgrenze. West und Ost müßten garantieren, daß ein geeintes Deutschland nicht mehr als die Territorien der gegenwärtigen beiden deutschen Staaten umfasse, hatte Genscher noch am Freitag in einem Fernsehinterview geäußert. In fast gleichen Worten wie zuvor Regierungssprecher Gerassimov wies der Bundeskanzler auf die deutsche Abschlußerklärung als Antwort auf die entsprechende Frage hin: “...daß die deutsche Frage nur auf der Grundlage der Realitäten zu lösen ist, das heißt, sie muß eingebettet sein in die gesamteuropäische Architektur und in den Gesamtprozeß der Ost-West-Beziehungen. Wir müssen die berechtigten Interessen unserer Nachbarn und unserer Freunde und Partner in Europa und in der Welt berücksichtigen.“ Doch keusch errötend drückte sich Kohl auch diesmal um die eigentlichen „schlimmen Worte“: Diese Entscheidung müsse letztlich einem gesamtdeutschen Parlament vorbehalten bleiben.
Und wie soll es weitergehen? Der gesamteuropäische Rahmen für die deutsche Frage soll der KSZE-Gipfel abstecken und später - detailliert - eine Konfernz, die - so Gennadij Gerassimov - „wir bedingt als Helsinki II“ bezeichnen. Auf die Frage, ob vor der KSZE-Runde noch eine Viermächtekonferenz angesagt sei, antwortete Außenminister Genscher: „Es wird viele Gespräche geben. Den Begriff 'Viermächtekonferenz‘ verwende ich nicht. Es werden auch Gespräche zwischen sechs Staaten stattfinden.“ Die Außenminister Genscher und Schewardnadse werden sich gleich am Montag in Ottawa weiter unterhalten, wo eigentlich eine vertrauensbildende Konferenz über den „offenen Himmel“ stattfinden sollte. Diese wird nun wohl auch zu einer Deutschland-Unterkonferenz.
Nicht ganz abwegig, denn Regierungssprecher Gerassimov hat im Zuge der „neuen Phase“ der gegenseitigen Beziehungen auch der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß sich die deutsch -sowjetische Zusammenarbeit zukünftig noch stärker auch auf den Kosmos erstrecken möge.
Barbara Kerneck, Moskau
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