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Revolutionäre Geduld

Warnung vor ökonomischen Folgen des hastigen Anschlusses der DDR an die BRD  ■ D O K U M E N T A T I O N

I. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten droht zum unkontrollierten Großexperiment zu werden.

Der Zusammenschluß zweier Staaten mit derart unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen und wirtschaftlichen Ordnungen ist nicht kostenlos zu haben. Dieser selbstverständliche und kaum in Frage gestellte Tatbestand freilich wird von der Befürchtung der Bevölkerung eines der beiden Staaten überlagert, daß die Aufrechterhaltung der Trennung für sie noch kostspieliger werden könnte und daß der Zusammenschluß mit Bedacht und in beträchtlichen Fristen den Preis gegenüber der „Wiedervereinigung jetzt“ steigern könnte. Politiker beider deutscher Staaten schüren diese Stimmung, indem sie eine Situation der Ausweglosigkeit herbeireden und nur noch den schnellen Anschluß der DDR an die BRD in Form einer Wirtschafts- und Währungsunion propagieren und betreiben.

Für beide Gesellschaften sind die Konsequenzen eines „Anschlusses“ nicht durchdacht, oder sie werden verschwiegen.

Der rasche wirtschaftliche Anschluß der DDR wäre ein Abenteuer nicht mit ungewissem, sondern sehr gewissem Ausgang: Mit dem Zusammenbruch großer Teile der DDR -Wirtschaft, die ohne den Schutz einer eigenen Währung mit niedrigem Wechselkurs nicht international konkurrenzfähig wären. Es wird offenbar bewußt kalkuliert, daß die gewaltigen sozialen Kosten eines raschen Anschlusses dem alten System angelastet werden können. Dies ist ein leichtfertiges Spiel mit dem Schicksal vieler Millionen Menschen.

II. Durch Wahlkampfversprechen darf kein (bi)nationales Desaster heraufbeschworen werden.

Die Wiedervereinigung in einer Stimmung der Panik läuft auf den Anschluß der DDR an die BRD hinaus. Von Politikern in West und Ost wird die Panik noch dadurch geschürt, daß der nahende Zusammenbruch der DDR-Ökonomie vorausgesagt wird, den die Bürger und Bürgerinnen der DDR nicht aus eigener Kraft verhindern könnten. Es könnte sich dabei um eine sich selbst erfüllende Prophezeiung handeln, bei der wahlkämpfende Politiker im Westen wie im Osten sich in Schwarzmalerei des Zustands der DDR-Wirtschaft und vor allem in den Versprechungen sofortigen Wohlstandes durch die Einführung der DM gegenseitig zu übertreffen suchen. Dies könnte ein (bi)nationales Desaster heraufbeschwören.

III. Eine hastige Vereinigung beider deutscher Staaten zöge Kosten in einer Größenordnung nach sich, die kaum zu bewältigen ist.

Die Gründe für diese Einschätzung liegen auf der Hand. Eine Vereinigung der beiden so verschiedenen Deutschländer ist nicht möglich, solange die Unterschiede, die alle kennen und die alle betonen, um die selbstbewußte und manchmal selbstgefällige Überlegenheit der BRD zu unterstreichen, weiter bestehen.

Nach den Erfahrungen im Umgang der reichen BRD mit ihren sechs Millionen Armen ist die Hoffnung auf Großzügigkeit der wirklich Reichen schlicht illusionär. Aber, wichtiger noch, wären die für eine notleidende Region aufgewendeten Mittel überhaupt sinnvoll eingesetzt? Wäre es nicht besser, einen kontrollierten Übergang zu unterstützen als das Elend zu finanzieren?

Erstens. Der Übergang zur vollen Konvertibilität der DDR -Mark oder gar die „D-Markisierung“ der DDR-Ökonomie durch Übernahme der DM in die Geldzirkulation der DDR würde die derzeit noch bestehenden Schutzmechanismen beseitigen, die einer ökonomischen Degradierung und sozialen Polarisierung der DDR entgegenwirken. Zunächst und unmittelbar würde die DDR-Mark ihren Wert - im Fall der Einführung der DM gänzlich - verlieren. Das liefe auf eine Enteignung aller in DDR-Mark gehaltenen Vermögen hinaus - mit oder ohne Inflation oder Währungsreform, wenn nicht ein umfänglicher Lastenausgleich für die Verluste von Sparern und Unternehmen, deren Vermögen in DM zu bilanzieren wäre, mitbeschlossen würde.

Zweitens. In das DM-Gebiet integriert, müßten die Unternehmen der DDR ihre Kosten und Preise in DM kalkulieren, ihre Produktpalette auf die Nachfragestrukturen des Weltmarktes ausrichten und so vom Augenblick des Anschlusses an mit den Konkurrenten der hochentwickelten westlichen Industrieländer aufzuschließen versuchen. Bei einem durchschnittlichen Produktivitätsrückstand der DDR -Ökonomie gegenüber der BRD von etwa 50 Prozent würden nur wenige konkurrenzfähige Unternehmen Löhne in einer dem westlichen Standard vergleichbaren Höhe zahlen können. Die Masse der Arbeitnehmer aber würde mit Billiglöhnen abgespeist werden.

Drittens. Die als Gegenposten versprochenen Kapitaltransfers aus der BRD würden zu einer Übernahme von gesellschaftlichen und privatem Eigentum in der DDR durch private Unternehmer aus der BRD führen.

Die Beschleunigung des Anschlusses der DDR an die BRD kann nur im Interesse von Spekulanten liegen, die in einer Situation der allgemeinen Verunsicherung versuchen, sich die besten Stücke aus dem Kuchen DDR herauszuschneiden; die Folgen interessieren sie nicht. Den von so manchem Politiker ausgemalten Investitionsboom kann es, wenn überhaupt, nur geben, wenn die Wirtschaft der DDR intakt bleibt und unter sozialer Kontrolle umstrukturiert wird.

Viertens. Diese Wirkungen könnten durch einen „Finanzausgleich“ zwischen der BRD und der DDR oder durch einen finanziell gut ausgestatteten Entwicklungsfonds nur zum kleineren Teil aufgefangen werden.

IV. Marktwirtschaftliche Reformen der DDR-Kommandowirtschaft sind nur mit einer gesicherten eigenen DDR-Währung und gezielten ökonomischen Schutzmaßnahmen möglich.

Gegen einen Wildwuchs von Marktkräften können also nur Maßnahmen der politischen Absicherung von Währung und Wirtschaft der DDR helfen. In erster Linie gilt es, sich darauf zu verständigen, daß die Konvertibilität der DDR-Mark nicht überhastet eingeführt wird und daß ein einheitliches DM-Währungsgebiet allenfalls dann Sinn macht, wenn nach einem längeren Prozeß der Angleichung der Produktivitäten in BRD und DDR die heute existierenden eklatanten Unterschiede verringert worden sind.

Durch ein multinationales Währungssystem mit einem gemeinsamen Stützungsfonds auf gesamteuropäischer Ebene über den Rahmen der EG und des EWS hinaus - könnte eine Absicherung des Wechselkurses erfolgen. Damit die Anpassungslast bei strukturellen Ungleichgewichten und damit verbundenen einseitigen Defiziten der Zahlungsbilanz nicht die DDR allein zu tragen hat, müßte der Stützungsfonds Regeln vorsehen, nach denen auch Länder mit Zahlungsbilanzüberschüssen zur Anpassung verpflichtet sind. Nur so könnte langfristig die volle Konvertibilität erreicht werden. In der Übergangsphase sollten unterschiedliche Regeln für die Bildung der Wechselkurse von Devisen für Tourismus, für den Warenverkehr und für Kapitaltransfers gelten.

Eine Intensivierung der westeuropäischen Währungszusammenarbeit könnte der Tendenz entgegenwirken, daß sich auch die gegenwärtigen RGW-Länder zu einer Art DM -Zone mit schwindender wirtschaftspolitischer Autonomie entwickeln.

Daneben ist es im Interesse der DDR, auch eine währungs und kreditpolitische Einbeziehung der übrigen RGW-Staaten durchzusetzen, um derart eine mittelfristige Fortführung und Weiterentwicklung des Austauschs der auf diese Länder ausgerichteten Unternehmen und Sektoren auf eine stabile Grundlage stellen und schrittweise an reale Preise heranführen zu können.

V. Die illusionären Versprechungen des „einig Deutschland“ werden zu Enttäuschungen der heute leichtfertig geweckten Erwartungen führen, die nur von der politischen Rechten besetzt werden können. Die Gesellschaft der DDR braucht Zeit und Hilfe, um sich zu reorganisieren: ökonomisch, politisch, sozial, ökologisch, kulturell.

(gekürzt)

Prof. Dr. Elmar Altvater, Berlin-W., Willi Brüggen, Berlin -W., Prof. Dr. Renate Damus, Osnabrück, Prof. Dr. Frank Deppe, Marburg, Dr. Michael Ernst-Poerksen, Berlin-W., Prof. Dr. Rudolf Hickel, Bremen, Dr. Kurt Hübner, Berlin-W., Mechthild Jansen, Köln, Prof. Dr. Eckhart Krippendorff, Berlin-W., Prof. Dr. Rainer Land, Berlin-DDR, Prof. Dr. Mondelaerss, Berlin-DDR, Dr. Reinfried Musch, Berlin-DDR, Prof. Dr. Peter von Oertzen, Hannover, Dr. Klaus Voy, Berlin -W., Dr. Frieder Otto Wolf, Berlin-W., Prof. Dr. Bodo Zeuner, Berlin-W.

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