piwik no script img

„Haben doch nichts als Eishockey“

Weißwasser, das ist: 37.000 Einwohner, Glaskombinat, Braunkohlebagger und Kraftwerke - vor allem aber Eishockey / Im Schnitt 8.000 Zuschauer sehen unter freiem Himmel jedes Heimspiel  ■  Von Petra Höfer

Einer dieser gemäßigten Wintertage. Die Außentemperaturen tändeln nur gelegentlich mit dem Gefrierpunkt, und nur selten noch gerinnen die umliegenden Seen und Teiche zur Schlittschuh-tauglichen Eisfläche.

Der Nachmittag verleiht dem örtlichen Grauton eine leicht abgetragene Eleganz. Die bläßliche Sonne, die im farblosen Himmel hängt, schmeichelt selbst den rostigen Mülltonnen, die schräg gegenüber der „Freiwilligen Feuerwehr - Ehrich Endlich“ still vor sich hindösen.

Hier trifft man gelegentlich den Chronisten des traditionsreichen Eishockeyclubs Dynamo Weißwasser auf dem Fahrrad: Furchen im Gesicht, Wehmut hinter starken Brillengläsern, das weiße Haupthaar vom Westwind zerzauselt

-die stete Westbrise trägt an rund 300 Tagen im Jahr den Dunst des nahegelegenen Gas-Kombinats „Schwarze Pumpe“ in den Ort mit 35.000 Einwohner unweit der polnischen Grenze.

Der Chronist verfügt nicht nur über einen Stapel selten gewordener Zeitungsausschnitte (nach 1970 durfte in der DDR vom Eishockey überregional nicht mehr berichtet werden), er ist auch stolzer Besitzer der wohl größten Unterschriften -Sammlung von Spielern und Offiziellen, dem ganzen Dunstkreis der Eisbahn eben. Mannschaftsweise läßt er sie bei Freundschafts-, Länder- und Weltmeisterschaftsspielen unterzeichnen. Und stets hat er ein Exemplar der Sammlung bei seinen Unterlagen, kramt es stolz aus der abgewetzten Aktentasche, hält es flatterig in den Wind - ein DIN-A-4 -Blatt voll unleserlicher Autogramme.

„Eishockey“, sagt er, „ist mein Leben. Ich weiß gar nicht, was ich hier ohne Eishockey hätte machen sollen.“ Früher habe das eh jeder Weißwasseraner auf dem zugefrorenen Braunsteich gespielt. „Früher“ hört man hier oft.

Wir befinden uns im Jahre 1990 n.Chr. Sämtliche Eisstadien der DDR sind von Eisschnelläufern und Pirouetten drehenden Katarina Witts besetzt... Sämtliche Eisstadien? Nein! Ein von unbeugsamen Eishockey-Provinzlern bevölkertes Dorf tief im Südosten - halb vergessen im Niemandsland zwischen deutsch-polnischer Grenze, Armeeterritorium und Braunkohletagebau - hat nicht nicht aufgehört, Widerstand zu leisten. Zwanzig lange Jahre.

„Niemand hat geglaubt, daß wir das durchhalten“, sagt Rüdiger Noack, einst Nationalspieler, heute verdienter Meister des Sports und Vorsitzender von Dynamo Weißwasser, oben im Clubraum des Wilhelm-Pieck-Stadions.

Noack sitzt dort mit leisem Triumph in einem der schweren Kunstledersessel. Er hatte die „Liebe zum Sport“, den notwendigen „Trotz“ und mittlerweile die strahlende Gelassenheit dessen, der es gerade noch einmal geschafft hat.

„Der Chef“ heißt Noack hier, und er muß jahrelang gefürchtet haben, daß ihm der Himmel auf den Kopf fällt. An Nachmittagen wie diesem, kurz vor einem der ungezählten Spiele gegen den immergleichen Gegner aus Berlin, hängt er gern alten Zeiten nach, als die Eishockeyknirpse aus Weißwasser noch mitten in der Nacht nach Ost-Berlin geisterten, um zu trainieren, weil das örtliche Natureisstadion mal wieder zur wassersporttauglichen Pfütze abgetaut war.

Erinnerungen an große Eishockey-Tage. Gelbliches Abendlicht liegt über Pokalen aus Weißwasseraner Kristallglas, Pokalen aus Weißwasseraner Industrieglas, Pokalen aus Keramik, Pokalen aus Edelmetall, Urkunden und unzähligen Zeitungsausschnitten seit Gründung des Dynamo-Clubs im Jahre 1953. In den Zwanzigern hieß das Hockeyteam - Gründer waren Arbeiter der Glasfabrik - noch schlicht Kristall, später Ost-Glas.

Jedes Spiel wird eine Nacht voll Wunderkerzen

Durch die weißen Vorhänge dringt mittlerweile das Licht der Stadionbeleuchtung in den Clubraum. Statt Flutlicht hat man hier Lämpchen am Kabelgitter direkt über die Eisfläche gehängt. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Die Tribünen, die an den offenen Stehplatzseiten Risse und Falten aufgeworfen haben, liegen in gnädigem Halbdunkel, stimmungsvoll umrahmt von den Schattenrissen vereinzelter Nadelhözer.

1959 war das für 1,8 Millionen Mark erbaute Freiluftstadion das modernste in ganz Europa: zur Einweihung waren 14.500 Zuschauer in der Arena, die Stadt zählte damals gerade 17.000 Seelen. Und noch heute kommen 8.000 Weißwasseraner im Durchschnitt zu jedem Spiel, mehr als zu den Großstadt -Westclubs in Köln oder Berlin.

Und immer wird es eine Nacht voll Wunderkerzen, voll blau -gelber Vereinswimpel oder - seit jenen Novembertagen - auch Deutschlandfahnen, voll satter Farben, grellem Licht, La Ola, Taumel, Bratwurstluxus, kurz: all dem, was Weißwasser sonst nicht gerade auszeichnet, und dazu: „Scheiß, Scheiß, Scheiß Berlin.“

Dynamo Berlin nämlich ist seit zwanzig Jahren der einzige Gegner im DDR-Meisterschaftskampf. Jahr für Jahr die immergleichen Spiele gegen die immergleichen Gesichter: Seit 1970 Eishockey von der Föderliste gestrichen wurde und nur die beiden Dynamo-Clubs übrigblieben, weil der internationale Eislaufverband das verlangt. Genug Zeit, sich hassen zu lernen: Berlin ist SED, ist Zentrale, ist Arroganz und Privilegien. „Die haben jahrelang alles in den Arsch geschoben bekommen“, sagen die Provinz-Dynamos. Daß man zwischendurch mit den Hauptstädtern zur Nationalmannschaft vermischt wird, tragen sie mit routiniertem Gleichmut.

„Wir kennen es ja nicht anders“, heißt es, während sie durch die senfgelben Katakomben des Wilhelm-Pieck-Stadions schlurfen, um im Duschdampf, Schweißdunst und Trikotmuff des Umkleideraums den sperrigen Sportpanzer gegen die typischen Stonewashed-Klamotten zu tauschen. „Unsere Generation ist doch gar nichts anderes gewöhnt.“

Michaela, 24jährige Dekorateurin mit einem Einkommen von gut 600 Mark brutto, war Eisschnelläuferin, bis sie dann, dreizehnjährig, vom rigiden Auslesesystem des DDR -Leistungssports gekippt wurde. Sie kennt sie alle: Gebauer, der wegen staatskritischer Bemerkungen auf Westreisen gern von den Stasi-Spitzeln im Team verpfiffen und dann gesperrt wurde; den „schönen Ron“, Noacks Sohn, der sich ebenso gut in den Gehaltsklassen bundesdeutscher Eishockey-Kollegen auskennt wie die Hanusch, Liebert oder Hantschke.

„Die Spieler“, sagt Michaela mit wegwerfender Anerkennung, „waren zum Teil unheimlich arrogant. Polizisten-Gehalt, Reisen ins NSW, das nicht-sozialistische Wirtschaftsgebiet die waren die unumschränkten Stars in Weißwasser.“

Rüdiger Noack tupft das vom Zugwind entzündete Auge. Er scheint am ehesten zu begreifen, daß die alte Dynamo-Welt gerade auseinanderbricht. Die Frage ist: Untergang oder Aufstieg zum West-Olymp? „Wir haben zwanzig Jahre verloren“, sagt er sportsmännisch schlicht, „aber jetzt sind wir am Drücker. Damals dachten die noch, wir machen das drei Jahre, dann heben wir von ganz allein die weiße Fahne. Aber sie haben uns nicht kaputt gekriegt. Man kann in Weißwasser das Eishockey nicht einfach verbieten. Die Leute hier haben doch nichts anderes.“

Ein Kino bloß, eine paar zeitig schließende Tanzlokale, ein verrottetes Schloß des Fürsten Pückler in der Nachbargemeinde Bad Muskau mit angrenzendem Park - ein bißchen Spaziergeh-Idylle mit Reihern drin.

Seit Mitte der Sechziger fräst sich der Braunkohlebagger durch die umliegenden Heide-, Sand- und Kieferntäler, frißt Dörfer, Straßen, Landschaft weg und läßt zerbuddelte Ödnis, Ruinen, verstreuten Hausrat und Verbitterung zurück.

„Alles, was stinkt, konzentriert sich bei uns“

Wenn der Wind gut steht, wehen Staub und Baggergetöse - ein klagendes Gejaule wie von todeinsamen Hunden - nach Weißwasser hinein, wehen durch die pastellfarbenen Wohnwaben der vor zwanzig Jahren aus dem Boden gestampften Neustadt und die finsterfeuchten Fassaden der marodierenden Altstadt, wehen über die Neonschrift des Eiscafes, die Kaufhalle, das HO-Broilereck, einer senfgelben Hünchen-Gastronomie, hinunter zum Jahnteich, wo einst das Natureisstadion den Ortskern zierte.

Heute schuckelt nur noch ein altes Passagierschiffchen im flaschengrünen Uferwasser. Ein „Privater“ hat es zum Restaurant umgerüstet, mit staatlich begrenzten Öffnungszeiten. Ein feistes Entenpaar hockt ungerührt im schwefligen Nieselregen. Bei Weißwasser liegen vier Kraftwerke, darunter auch Europas größte Braunkohle -Dreckschleuder: Boxberg.

„Alles, was stinkt, konzentriert sich bei uns.“ Wolfgang Fischer, „Org-Leiter oder so eine Art Manager“ des Clubs, reckt das spitze Gesicht zu solch Galgenhumorigem gern kokett in die Höhe. Seine Eltern kamen vor Jahren aus dem heutigen Polen. Sie stiegen in den falschen Zug. Der Rest der Fischer-Familie fuhr damals gen Westen. „Man war jahrelang was anderes und ist trotzdem dasselbe.“ Wie fast 90 Prozent aller im Club Beschäftigten war auch Fischer einst aktiver Spieler. „Hier“, sagt Fischer, „wird niemand einfach fallen gelassen, wenn er aufhört.“

An der Wand mit den Zeitungsausschnitten hängt er mit Koteletten und Torwartdress. „Einmalig auf der Welt“ findet er das DDR-Eishockey, und das ist es auch. Nur: „Wir haben bei Spielen im Ausland so manchen Schweizer Franken verdient. Damit haben sie dann aber andere Sportarten gefördert.“

„Erst mal abwarten,

was von oben kommt“

Gemeinsam mit den Stadion-Einnahmen nämlich mußte alles stets „nach oben“ abgeführt werden. Künftig bleibt das Geld im eigenen Beutel, aber es gilt auch, die festen Kosten von 4,5 Millionen im Jahr, davon allein 350.000 für die Energie des für Eisstadions und der Trainingshalle, aufzubringen.

Eishockey ist teuer, die künftige Finanzierung ausgesprochen unsicher. Selbst das Gehalt der Spieler ist bloß noch die ersten drei Monate dieses Jahres gesichert. Hanusch: „Danach müssen wir erst mal weitersehen.“ Joachim Langner, Lokalredakteur der 'Lausitzer Rundschau‘, orakelt bereits: „Das war die letzte Saison der Dynamos.“ Trainer Herzig dagegen hält routiniert einfach den gewohnten Kurs: „Erst mal abwarten, was von oben kommt.“

Im Städtchen studieren sie mittlerweile die auf der Schreibmaschine geschriebenen Ausführungen des Neuen Forums, in Bahnhofsnähe an einen Baum gepinnt. „Inzwischen gibt es so viele Parteien“, sagt Michaela, „daß hier niemand mehr weiß, was die eigentlich wollen.“ Es gibt zwar einen Runden Tisch und Montagsdemo in Weißwasser, aber wenig Information.

Zermürbende Ratlosigkeit. Die Chefin des örtlichen Kraftfahrzeug-Ersatzteilladens steht niedergeschlagen neben der altmodischen Registrierkasse. Die hereinströmenden Kundschaft wird mit monotonem „Nein, das ist heute nicht gekommen“ unverrichteter Dinge wieder in den Wintertag geschickt. „Wir sind natürlich auch rüber, als die Grenzen auf waren“, sagt sie irgendwann. „Dann guckt man sich das alles an, kommt zurück und soll plötzlich wieder mit dem zufrieden sein, was man hier hat. Ich habe nächtelang wachgelegen.“

Einer dieser graubraunen Wintertage eben. Es ist milder geworden in Weißwasser, sagt man. Halb vergessen im Niemandsland. Zwischen polnischer Grenze, Braunkohleabbau und Fasching in Bad Muskau gerät die Zeit plötzlich wieder in Bewegung. Westdeutsche Wagen stehen vor dem einzigen Hotel am Ort, einem fünfstockigen Kasten mit unglaublichen Dekoren. Und der Bücherladen verhökert endlich Pornographie aus DDR-Produktion.

Es gibt so wenig in Weißwasser, an dem sich die Menschen festhalten könnten. Nur im Eisstadion haben sie - kostenlos

-Reklame lokaler Industriebetriebe an die Banden gehängt. In der Dämmerung meint man manchmal, man wäre im Westen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen