: Dem Grosz sein Uhl
■ Ulrich Becher, Schriftsteller und Emigrant. Sein Briefwechsel mit George Grosz
Katharina Döbler
Damals, als man noch nicht so schlau war wie heute und noch nicht so genau wußte, wie man sich als Mensch von Kultur und gutem Willen zu aufkeimendem Faschismus, Nationaler Revolution und Tausendjährigem Reich zu stellen hatte, weil man mittendrin steckte und noch nicht per Zusammenbruch eindeutig entschieden war, wer die Gewinner und wer die Verlierer, die Guten und die Bösen letztlich sein würden; damals gab es genausoviel falsche Hoffnungen, achselzuckende Toleranz und krasse Fehleinschätzungen wie heute, wenn es politisch weitreichende Ereignisse zu beurteilen gilt. Die Minderheit, die damals dagegen war - im nachhinein will's ja immer eine Mehrheit gewesen sein - war unsicher, sich uneins, wie die historischen Momente jener Zeit einzuschätzen waren.
Einen guten Einblick in das, was diskutiert wurde damals, was in den Köpfen der Exilierten vorging, bietet der - jetzt vorliegende - Briefwechsel des George Grosz mit seinem Freund Ulrich Becher. Bisher bekannt sind die Briefe Grosz‘ (erschienen 1979 bei Rowohlt) mit all ihrer zynischen Resignation.
Diese zum Teil sehr bitteren Tiraden voller Menschenverachtung und Selbsthaß, alkoholisierte Geistesblitze, waren oft genug Hilferufe an den Freund, eine „Flaschenpost“, abgeworfen aus dem Leuchtturm, in dem er sich hocken fühlte, der ehemalige Porträtist des „Gesichts der herrschenden Klasse“, einsam mit seiner Flasche, ein ihm überflüssig scheinendes Leuchtfeuer hütend.
Ulrich Becher, Sender und Empfänger von Flaschenpost über 25 Jahre, war in Berliner Tagen vom Schüler zum Freund geworden. Und der hielt dagegen, überredend, begütigend, kämpferisch, seinen manchmal verzweifelten, manchmal - von unserem heutig-schlauen Standpunkt aus - lächerlichen Humanismus, einen naiven - s. o. - Glauben an etwas Gutes, Soziales und Schönes.
Nur ganz wenige der Briefe, die zwischen Böff (Grosz) und Uhl (Ulrich Becher) hin und hergingen, wurden in Deutschland geschrieben, aber immer drehen sie sich um dieses Deutschland, das tausendjährige und später das wirtschaftswunderliche; in das Grosz zurückkehrte, um einen Monat später zu sterben, und Becher niemals, außer zu Besuch.
Gleichzeitig erzählt dieser Briefwechsel die Geschichte einer Männerfreundschaft, die auch eine fast zwölfjährige Trennung und weltanschauliche Antagonismen vertragen konnte. Freund Böff, in dem Versuch, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen und „ein echter Amerikaner“ zu werden („wie Stresemann...“), sich unpolitisch zu geben und der braunen „Mostrichwelle“ mit abgeklärtem Zynismus zu begegnen, griff Freund Uhls Ideale - und damit auch seine eigenen - aufs Heftigste an; „Also Du mit deinen nebenbei so unklaren 'noblen‘ Ideen von Weltumänderung undso .. (...) Deine Ideen sind (...) unerfahren edel und ganz noch auf dem Misthaufen eines vergangenen bürgerlichen Idealismus gewachsen.“ Unverdrossen schrieb der solcherart Attackierte von seiner „antikapitalistischen Sehnsucht“, träumte von militantem Pazifismus, einer Art „fresseschlägerischer“ humanistischer Kampfgruppe, die die Welt vor dem Abgrund bewahren könnte. Grosz reagierte darauf mit beißendem Spott. So rieben sie sich aneinander, brieflich, jahrelang. Dabei ist durch diese Briefe eine hartschalige Zärtlichkeit zu spüren und, bei allen Gegensätzen, die Freude darüber, einen Freund zu haben, mit dem zu streiten sich lohnt: für Emigranten keine Selbstverständlichkeit.
Nun war Ulrich Becher ganz gewiß nicht der Typ des heimwehkranken, verzweifelten Exilierten; eher schon Kosmopolit, wenn auch unter Zwang, der sich überall und nirgends fremd oder zu Hause fühlen konnte. Zum einen vielleicht, weil er erst 23 Jahre alt war, als, wie er selbst notierte „meinem ersten Buch die Ehre zuteil“ wurde, „mit dem Prädikat 'entartet‘ versehen und unter den lenzlichen Linden vor der Berliner Universität von ein paar mir persönlich bekannten Kommillitonen in die Bücherscheiterhaufen gepfeffert zu werden„; er also im besten Aufbruchsalter war und noch keine Stellung, keinen literarischen Ruf zu verlieren hatte. Zum andern wohl auch, weil er von seinem bewunderten Schweizer Großvater eine gute Portion humanistisch-kosmopolitischen Bewußtseins mitbekommen hatte: dieser Großvater war einziges ausländisches Mitglied im Berliner Arbeiter- und Soldatenrat gewesen, hatte zeitweise in Rußland und den USA gelebt, war Sozialist und eingefleischter Antimilitarist.
In den Zirkel um George Grosz wurde Ulrich Becher als dessen Zeichenschüler aufgenommen. Dort lernte er Ernst Rowohlt, die Brüder Herzfelde/Heartfield, Erwin Piscator und andere Kult- und Kulturgrößen der Zeit kennen. Der viel ältere Grosz brachte ihm nicht nur künstlerisches Handwerk bei, sondern auch Freundschaft entgegen, lehrte ihn seine spezielle Sicht der Dinge. Grosz‘ inkriminiertes Tableau „Christus mit Gasmaske“ war die Vorlage für Bechers erstes Theaterstück „Niemand“ , das aber 1933 nicht mehr aufgeführt werden durfte.
Die Gründe, warum Becher dann Deutschland verlassen mußte, waren zunächst weniger von der literarischen Art; sein einziger bislang veröffentlichter Erzählband wäre kaum Grund genug gewesen. Was ihn viel mehr gefährdete, waren seine Kontakte zu bekannten Radikalen und vor allem sein eigenes hitziges Temperament: schon als Schüler war er in Schlägereien mit Jungnazis verwickelt gewesen und noch 1933 prügelte er sich auf dem Tauentzien mit der SA. Sein Vater, ein bekannter Berliner Anwalt, riet ihm dringend, nach Österreich zu gehen.
Da begann dann ein weiterer Freund und Meister, nach dem Großvater und Grosz, in seinem Leben eine wichtige Rolle zu spielen. Alexander Roda Roda ohne Bindestrich, der menschenfreundliche Spötter und satirische Chronist der k. und k. Monarchie, wurde sein Schwiegervater. Dana Roda, die Tochter, war Bechers Studentenliebe und wurde im österreichischen Exil seine Frau.
Drei Ziehväter, der bissige deutsche Zeichner, der idealistische Schweizer Kosmopolit und der witzige österreichische Fabulierer, packten das Gepäck für seine lebenslange Heimatlosigkeit: einen prall gefüllten Kulturbeutel, den er mit sich herumschleppte, in die Schweiz, nach Portugal, Brasilien, in die Vereinigten Staaten, auf all den Reisen, die er, auch als er sich in der Schweiz dann offiziell niedergelassen hatte, ständig unternahm. Dieses schwerwiegende Gepäckstück hat er nie wieder losgelassen, daran hielt er sich fest als unbekannter junger Schriftsteller im Exil und daran hielt er auch fest, als im Nachkriegsdeutschland mit solcherart gebeutelter Kultur kaum einer etwas anzufangen wußte.
„Ich marschiere weder rechts noch links, ich verachte die traurigen Pazifistchen, die händeringenden Demokraten, die humpelnden Invaliden der Menschenrechtsligen, die kommunistischen Spatzen und gemütlichen Sozis, die weniger ausrichteten als ein Tierschutzverein in Tirol ...„schrieb er an Grosz. Die große Frage, was er, er selbst, denn tun könne, blieb ohne Antwort. „Ja, ick wollte sie gerne erleuchten und zwar sofort...
Meine Feder erschien mir dafür als zu klein und zu gemächlich, sie umdrehen und als Gummiknüppel benutzen wollen... wäre lächerlich gewesen. Also hockte ich da, zwischen zwei Stühlen... weder Schreiber noch Polizist, in einem untätigen Tatendrang, in einem drängenden dräuenden Wollen und Natürlichnichtimentferntestenkönnen...“ Heroisch unternahm er den Versuch, sie dennoch zu erleuchten, mit dem Pamphlet „Einigt Euch um Gottes Willen“, das Heinrich Mann in seiner Freiheitsbibliothek abdruckte. „Wer liest denn auch den Dreck nachher?“ spottete Grosz.
Der Anschluß zwang die Becher-Roda-Sippe eine Grenze weiter: im letzten unkontrollierten Zug erreichten sie die Schweiz. Im selben Jahr verlor Becher zwei Freunde: Ernst Glaeser kroch zu Hakenkreuze, heim ins Reich; Ödön von Horvath verunglückte tödlich in Paris. Was die Zürcher Emigrantenszene im Lokal „Zum Hinteren Sternen“, auch gerne „Im Hintern“ genannt, anging, gab es wenig Anlaß zur Hoffnung. Man war weit davon entfernt, einig zu sein, war mehr oder weniger mit eigenen Problemen beschäftigt; arbeiten durfte man offiziell nicht. Becher schwang weiterhin kämpferisch die Feder, mit dem quälenden Bewußtsein, daß das nicht genug war. Als der Krieg ausbrach, fühlte er sich in der Schweizer „Alpenkatakombe“ wie die Maus in der Falle; zudem hatte er es auch hier geschafft, sich durch seine Veröffentlichungen und Schlägereien mit den faschistischen „Fronisten“ unbeliebt zu machen. „...infiziert mit unerträglichem Leiden, dessen Wüten sich allein zu heilen vermochte durch Amoklauf, das hieß: qualvollen Selbstmord oder Flucht. „Als Leidensbekämpfer wählte ich Flucht...“ schrieb er später in einem seiner Romane. Eine Möglichkeit ergab sich, als eine Gruppe katholischer Ingenieure im Auftrag des Vatikan zum Aufbruch nach Brasilien rüstete. Becher war weder Ingenieur, noch war er katholisch, aber er schaffte es, unter dem Schutz des Papstes und der tschechischen Exilregierung, mit nicht ganz legalen Papieren, mit seiner Frau durch Vichy-Frankreich und Franco-Spanien nach Portugal und von da nach Brasilien zu kommen.
Mit seinen europäischen Kulturgütern im Reisegepäck war nicht viel anzufangen in Rio, wo Suff und Samba das Leben bestimmten. Zwar schrieb er für die südamerikanische Emigrantenpresse ebenso wie für eine brasilianische Tageszeitung, aber hauptsächlich entstanden in dieser Zeit gesungene Romanzen, eine Art Lyrik, wie schwindelig gewordene Prosa unter einem Übermaß an fremden Eindrücken. Bechers barocker Fabulierlust kam diese bunte Fremdheit entgegen; die Theaterstücke, die er später schrieb, und die auf diese Zeit zurückgehen, sind geprägt von einem babylonischen Sprachgemisch, von Rausch und Rhythmus, aber auch von dem zentralen Konflikt, den der Emigrant ständig mit sich selbst auszumachen hatte: Wie verhält sich der schreibende Linkshumanist am Strand von Copacabana zum Krieg in Europa, dem Europa seiner drei Väter? Die Möglichkeiten spielte er in einem seiner Stücke durch: In den Personen eines überzeugten Kommunisten, eines Säufers, eines Kämpfers, der in den Krieg zu gehen beschließt, eines Selbstmörders. Die Beispiele hatte er vor Augen: Der Selbstmord des Stefan Zweig, der in Rio ganz in der Nähe gewohnt hatte; die jungen Tschechen, die sich aus dem Exil zur englischen Armee meldeten. Der Schluß, ein für ihn immer nur vorläufiger Schluß, war: „Schreib's auf, dein Wort“. Aber das schien oft genug sinnlos in Brasilien. Schreiben, das sei ja ganz schön, die anderen anfeuern, meinte er selbstironisch. Soldat zu werden, das wäre seine Sache sicher nicht gewesen. Dafür war er zu undiszipliniert, zu dickschädelig, dazu steckte ihm der Antmilitarismus zu tief in seinem Kulturbeutel.
Das ersehnte Visum für die USA kam und ab Sommer 1944 hieß das Exil New York. Das bedeutete Wiedersehen mit Freund Böff und Wiedersehen mit Roda Roda, der schon todkrank war. Im selben Jahr wurde Ulrich und Dana Bechers Sohn geboren.
Die alte Männerfreundschaft lebt wieder auf: Freund Böff und Freund Uhl schlagen sich saufend die Nächte um die Ohren und wenn sie sich nicht sehen, schreiben sie weiter Briefe. Grosz, wenn nicht gerade von Kater und Depressionen gequält, versucht „väterlich wegweisend“, Wege zu ebnen, Publikationsmöglichkeiten zu verschaffen, kritisiert und ermutigt. Becher arbeitet viel, schreibt Theaterstücke, darunter den später in Wien recht erfolgreichen „Bockerer“, und Erzählungen, die, ins Gespensterhaft-Groteske verzerrt, seine Beobachtungen in New Yorker Emigrantenkreisen widerspiegeln. Mit Vorliebe trieb er sich in Spelunken und abgewrackten Hotels herum, auch in Harlem, wo er sich als Brasilianer auszugeben pflegte und wohlgelitten war. An Kontakten mit Intellektuellen und Schriftstellerkollegen lag ihm nicht viel. Der barocke Verseschmied, idealistische Poltergeist und Weltbürger Becher war inmitten schräger Vögel, Heimatloser aus aller Herren Länder, Entwurzelter, Träumer und Trinker, ganz zu Hause. Nach dem, was man später mit fatalistischer Distanz als den „Zusammenbruch“ bezeichnet hat, als sich eine unter den Trümmern des Großdeutschen Reiches hervorgezogene Kultur samt ihren Trägern zu restaurieren begann, dachte auch Becher an Rückkehr. In Amerika hätte er langfristig seine „Schreiberwerkstatt“ schließen müssen, aber wo im Nachkriegseuropa sollte er sie wiedereröffnen? Der gebürtige Deutsche mit tschechischem Paß und amerikanischem ID, war durch Protektion des mittlerweile verstorbenen Roda Roda österreichischer Bürger; seine Eltern allerdings lebten in der Schweiz. Dana Becher war das Heimweh nach allem Deutschen schon lange vergangen und sie wäre lieber geblieben. Freund Böff spuckte Gift und Galle: „Ihr kehrt zurück, kehrt den Staaten den Rücken, weil ihr allemann hoch hierzulande keinen Erfolg hattet, hattet ihr...zum Muttchen geht ihr zurücke...ihr kleineren Leute konntet euch nicht ansiedeln, so wurdet ihr nichts weiter als displaced persons...(...) Ich bin hier ein failure since I came to USA but ich bin kein Desertör I stick with my failure, OK...“ Der Umzug 1948 in die Schweiz stand nicht unter dem Zeichen einer glücklichen Heimkehr. Der erste Kontakt - in Wien mit der postgroßdeutschen Kulturszene, die so ganz anders war als das, was er so in seinem abgeschabten Emigrantengepäck mit sich herumtrug, lehrte den Rückkehrer Becher das Grausen: „Auftretend teils in nagelneuen Uniformen, an denen nie ein Stäubchen des Krieges geklebt hatte, als 'Umerzieher‘, 'Theater- und Presseoffiziere‘ fraternisierte die Handvoll (...) mit den Nutznießern des Gestern, den Unzufriedenen von Heute, (...) Ex-Emigranten und Ex-Nazis machten einander hoffähig auf der Hatz nach Wiederergatterung verlustig gegangener Pfründe. Jäger und Schassierte von Gestern hockten in schauerlicher Spießgesellschaft an einem Stammtisch.“
Beschreibungen wie diese waren nicht dazu angetan, dem Außenseiter und Irgendwie-immer-noch-Emigranten eine freundliche Aufnahme zu gewährleisten. Es dauerte nicht lange, da wurde ihm von Kritikerseite mitleidig bescheinigt, er leide an einer „traumatischen Fixierung auf die Zeit nationalsozialistischer Unterdrückung“. Diese Einschätzung Bechers führte immer wieder dazu, daß seine Arbeit als moralisch hochstehend aber - leider! - unzeitgemäß und damit unverkäuflich bewertet wurde; typisches Beispiel: die „New Yorker Novellen“, die von einem Wiener Kleinstverlag herausgebracht, gelobt, kaum verkauft, und später bei Rowohlt wieder erfolglos herausgebracht wurden. Bei der Rowohlt-Ausgabe unterschlug man kurzerhand eine der Geschichten'wegen anti-amerikanischer Tendenzen.
Während nun Becher als ungebetener Gast mit seinem sperrigen Kulturbeutel in Europa herumschweifte, ohne im doppelten Wortsinn anzukommen, litt Grosz, „one of the lonliest and most dejected painters“, mehr denn je unter seiner Einsamkeit. Er schrieb sehnsüchtige Briefe an Freund Uhl: „Du fehlst mir...Was machst du des Nachts von 4 bis einhalbsechs?...Würdest du gerne zurück in die Staaten...?“ Er habe Sehnsucht, schreibt der zurück. „Was für 'nen Halbtagsjob könnt‘ ich denn drüben einnehmen, was für einen denn? Hier kann ich wenigstens bisdergrosseKrachkommt den Leuten zweimal im Jahr von der Bühne herunter den Hintern zeigen.“ Der große Krach blieb aus. Die Stücke wurden in der Bundesrepublik nach formalen Gesichtspunkten abgekanzelt, in der DDR nach ethisch-politischen Gesichtspunkten beklatscht. Damit befand sich Becher - wieder einmal - zwischen zwei Stühlen. „Diese Zeit ist auch in Friedenszeiten eine große Herzabnutzerin“, schrieb er Anfang 1951 an Grosz. „Ich geh‘ auf keine Bälle mehr und keile mich auch immer; bin, scheint mir, ein ziemlich ernster Mensch geworden...“ Später heißt es, in dem selben Brief: „Ich habe, in alter Anlehnung an dich, Deutschland nicht wieder betreten.“ Er tat's dann aber doch, kam oft nach Berlin beispielsweise, aber nie hielt er sich lange genug an einem Platz auf, um dazuzugehören. Er schrieb auch - seiner traumatischen Fixierung treu - an der Lesergunst vorbei. Diesem Emigranten und Außenseiter verzieh man die Beharrlichkeit nicht, mit der er an dem immerhin auch sozialistischen Erbe seiner Väter festhielt.
Gegen Ende der fünfziger Jahre begannen sich für Becher dann doch erste Ansätze von schriftstellerischem Erfolg einzustellen, allerdings nur im Westen; in der DDR war er schon wieder unbeliebt geworden. Sein Roman „Kurz nach 4“ fand allgemeines Lob und verkaufte sich auch. In der letzten Postkarte des George Grosz heißt es noch: „Freuen uns sehr über deinen großen Erfolg. Du, lieber Freund, hast jetzt die Zeit des Lebens.“ Einen Monat später, wenige Wochen nach seiner endgültigen Rückkehr nach Berlin, starb George Grosz. „...und komme mir vor wie ein Schiff, dem das Steuer abgeschlagen wurde. Aus nah und fern: immer ist Böff ein Steuer für mich gewesen“, schrieb Becher an die Witwe. Danach kam das große Schweigen: Zehn Jahre lang hörte man nichts mehr von ihm. 1969 erschien das Meisterwerk des schon wieder Vergessenen: „Murmeljagd“, über 500 Seiten, prall gefüllte Seiten, Emigrationsgeschichte. Die literarischen Orakel in 'Faz‘ und der 'Zeit‘ fielen geifernd und mit erstaunlicher Bissigkeit darüber her, was um so erstaunlicher ist, als sämtliche anderen Kritiken ausgesprochen freundlich waren.Tatsächlich war dieses Buch in mancherlei Hinsicht eine Sünde wider den Zeitgeist: ein Monsterwerk, in dem Becher hemmungslos alle Register der Groteske zog, auch stilistisch, voll von groszartig gezeichneten Gestalten, eine Beschwörung der Dämonen des Exils. So viel Fleisch und Blut, Schrecken, Liebe und Hoffnung findet man sonst kaum in deutscher Nachkriegsliteratur. Seinen drei Vätern, nicht aber dem Segen der Hohepriester der schreibenden Zunft, hat er sich damit würdig erwiesen. „Dichter havarierten Europäertums“ nannte man Becher. Darin schwingt die mitleidige Herablassung für einen von Gestern. Der havarierte Europäer George Grosz schrieb in einem seiner Anfälle von Verzweiflung: „Wir sind Treibholz...outlaws and not wanted. So long as ever yours, Böff.“
Flaschenpost - Geschichte einer Freundschaft. Hrsg. Naumann/Töteberg. Lenos Verlag, Basel, 1989. DM 42,
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen