Ende eines sozialdemokratischen Modells

■ In Schweden ist die Regierungfrage nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Ingvar Carlsson völlig offen / Die sozialdemokratische Minderheitsregierung war am Widerstand gegen ihr „Sparpaket“ gescheitert

Berlin (taz) - Schweden steht vor dem Ende seines Modells. Ausgerechnet die Sozialdemokraten, die in rund sechs Jahrzehnten fast ununterbrochener Regierungsverantwortung daran gebastelt hatten, stellten wesentliche Bestandteile des schwedischen Sozialstaates zur Disposition. Zwar ist die Minderheitsregierung Ingvar Carlssons zunächst über ihr vorgeschlagenes „Sparpaket“ gestolpert und mußte am Donnerstag zurücktreten, doch zeichnete sich gestern in Stockholm bereits ab, daß ohne Neuwahlen kein Weg an den Sozialdemokraten vorbeiführt. Weder die drei bürgerlichen Oppositionsparteien, noch Grüne oder Kommunisten verfügen über die nötigen Mehrheiten - möglicherweise auch nicht über den politischen Willen - um in der jetzigen Situation die Regierungsverantwortung zu übernehmen.

153 Abgeordnete hatten für und 190 Oppositionsabgeordnete gegen das „Sparprogramm“ gestimmt, das vorsah, Löhne und Preise für zwei Jahre einzufrieren sowie das Streikrecht einzuschränken. Sechs Abgeordnete nahmen an der Abstimmung nicht teil. Das Vorhaben der Sozialdemokraten, auch ein zweijähriges Streikverbot zu verhängen, war bereits am vergangenen Montag aufgrund des Widerstandes von Gewerkschaften und sozialdmeokratischer Basis zurückgenommen worden. Sämtliche Oppositionsparteien hatten die Regierungsvorlage scharf kritisiert.

Schwedens wirtschaftlicher Aufschwung in den letzten Jahren ist mit einem rekordhohen öffentlichen und privaten Verschuldung und einem Kaufkraftverlust vor allem bei den Niedriglohngruppen bezahlt worden. Wird der dadurch angestaute Druck frei - und nicht durch Lohn- und Preisstopps unterdrückt - stehen Lohnerhöhungen von mehr als zehn Prozent und eine zweistellige Inflationsrate ins Haus, deren wahrscheinliche Folgen sinkende internationale Konkurrenzfähigkeit und steigende Arbeitslosenzahlen wären. Mit ihrem von der Opposition als „wirtschaftliche Ausnahmegesetzgebung“ gegeißelten Sparprogramm trennten sich die Sozialdemokraten von ihrer traditionellen sozialpartnerschaftlichen Linie, die sie seit 1932 - dem Beginn ihrer nur durch sechs Oppositionsjahre unterbrochenen Regierungsverantwortung - verfolgt hatten. Mit dem Rücktritt der Regierung Carlsson ist der Weg offen für eine Kabinettsneubildung, worüber der Parlamentspräsident gestern mit sämtlichen Fraktionschefs sprach. Neuwahlen stehen damit - zunächst - nicht auf der Tagesordnung.

„Ein peinliches Schauspiel“ nannte der konservative Oppositionsführer Carl Bildt den Rücktritt Carlssons nach dessen Abstimmungsniederlage. Und der Chef der Kommunisten, Lars Werner, warnte: „Wir dürfen uns nicht wundern, wenn die Wahlbeteiligung immer weiter sinkt.“ Beide bezogen sich auf die Tatsache, daß Regierungschef Carlsson nun offensichtlich die Regierungsmacht ohne Wählervotum erhalten will. Möglicherweise das erste Indiz für ein neuerliches sozialdemokratisches Regierungsvorhaben ist der gestrige Rücktritt des sozialdemokratischen Finanzministers Kjell -Olof Feldt, der seit Donnerstag seine Geschäfte nur noch kommissarisch verwaltet. Feldt gilt als zentrale Figur bei dem Versuch, den öffentlichen Dienst, in dem jeder dritte Schwede arbeitet, zu „effektivieren“.

Schützenhilfe bekamen die Sozialdemokraten gestern aus der Vorstandesetage eines großen Industriekonzerns. Volvochef Pehr Gyllenhammer erklärte, Neuwahlen seien der denkbar schlechteste Weg angesichts Schwedens schwieriger Wirtschaftslage. Gyllenhammers Empfehlung: „Liberale und Konservative sollten eine Koalition mit den Sozialdmeokraten bilden.“ Vorläufig deutet jedoch nichts darauf hin, daß die angesprochenen Konservativen dies für eine gute Idee halten.

dora