: Fiktionen aus der Wirklichkeit
■ Jean Rouchs Kamera oder: die imaginäre Maschine
Philippe Despoix
Am Himmel die Wolken. Die Kamera taucht langsam nach unten ab. Eine wilde Landschaft erscheint im Ausschnitt. Der Apparat schwenkt ringsum; als er im Panorama ein afrikanisches Dorf entdeckt, hält er an. Die Kamera bewegt sich, als sagte Rouch in Bildern „Es war einmal“. Er scheut sich nicht, Verbote zu übertreten: ethnographische Filme wie Geschichte zu erzählen. Sie sind von der Art „Märchen in Bildern“, eine Form, die er vervollkommnet hat seit seiner ersten Dokumentation über die Rituale der „Yenendi“: Les hommes qui font la pluie (Die Regenmacher) 1951.
Rouch ahnte seit Beginn seiner Arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg, daß das kinematographische Medium etwas radikal Neues zur Ethnologie beitragen kann. Er kennt den Zwang, welcher jeder „einfachen Wiedergabe“ des Wirklichen vorangeht, und unterwirft sich ihm. Der Film muß vorführen, inwiefern sein Vermögen zur Erforschung von Wirklichkeit unserer Wahrnehmung und unserem Gedächtnis überlegen ist. Der Ethnograph trifft vor allem auf das alltägliche Leben, auf Rituale und Feste fremder, zumeist schriftloser Kulturen.
Wie aber lassen sich Riten, von denen vorweg weder Ablauf noch Bedeutung bekannt sind, aufnehmen, ohne das Wesentliche aus den Augen zu verlieren? Diese Frage ist der Ursprung von Rouchs Reflexion über Material und Technik. Denn mit einem Schlag wurde das ganze Know-how der Filmindustrie hinfällig. Um das „Leben“ einzufangen, mußte im Freien mit leichter Ausrüstung gedreht, mußten also bestehende Konventionen aufgegeben werden: das Stativ, das große Team, die Nachsynchronisation der Außenszenen, schließlich das Drehbuch.
Die tragbare Synchronkamera
Es war nötig, das Werkzeug zu verändern, die Kamera menschlichen Proportionen anzupassen, sie auf die Schulter zu setzen und so Freiheit für eine Bewegung zu schaffen, in der Auge und Körper gepaart sind; sie also dem neu verfügbaren Material Farb-Tonfilm anzupassen: ihr dieses künstliche Ohr hinzuzufügen, das dem Kinodokument, solange es synchron mmit dem Objektiv arbeitet, endlich das Element zur Kontrolle der Wahrheit der Bilder liefert.
Aus diesem Zwang entstand 1960 die tragbare Synchronkamera, deren Apparatur auf ein Minimum reduziert und durch eine Körpertechnik1 ergänzt wurde: ein mobiles Zwei-Personen -Team, Kamera-Auge und solidarisches Mikro-Ohr, und, um den wirklichen Abläufen so nah wie möglich zu bleiben, weitestgehender Rückgriff auf Sequenzeinstellungen sowie Schnittvornahme in Einverständnis mit den Akteuren.
In der Ethnographie muß die Kamera zum integralen Teil der gefilmten Szene, muß sie selbst Mitwirkender werden. Rouch, der weiß, daß es einen objektiven Blick nicht geben kann, schließt sich der Sicht der wirklichen Akteure an. Davon gibt es in jedem Ritus zwei Typen: den passiven Zuschauer und den aktiven Teilnehmer. Und meistens verwandelt sich im Verlauf des Rituals der eine in den anderen. Hieraus ergeben sich die zwei Gesichtspunkte, die man in all seinen ethnographischen Filmen wiederfindet.
Der erste ist der eines noch nicht (oder nicht mehr) in die handelnde Gruppe integrierten Beobachters: die Sicht des Ganzen, gewöhnlich eine stehende Halbtotale wie etwa in L'enclume de Yougo (Der Amboß des Yougo, Sigui 1967) oder in den gemeinsam improvisierten Szenen von L'enterrement du Hogon (Die Beerdigung des Hogon 1972), wo das Bild nahezu abstrakt wird, als ob der Kameraausschnitt von selbst das Tanz-Spiel in eine Welt verwandelte, in der für einen Augenblick alle Perspektive abgeschafft ist - man denkt an „Spiele“ von Brueghel.
Der zweite Blickwinkel ist der des teilnehmenden Individuums, dessen Rolle, obwohl improvisiert, dennoch von der Tradition vorgezeichnet ist: die partielle, subjektive Sichtweise des Akteurs in Bewegung. So etwa das Besessen -Werden eines der Tänzer während einer der zahlreichen von Rouch gefilmten Zeremonien der „Yenendi“: die Kamera folgt ihm so dicht wie möglich, ahmt in allen Zügen seine Bewegungen nach, wird gewissermaßen zu seinem Double - das nennt er „Kamera in Trance“. Durch den Synchronton ist die Übereinstimmung von Bewegung und halluzinatorischem Rhythmus der Schläger so genau, daß man sich dabei ertappt, wie man die Leinwand durchschreitet, um an der Mystik der Körper teilzuhaben. Dialog mit den Göttern
Was aber machen diese Menschen? Sie stellen ein gestörtes Gleichgewicht wieder her, sie versuchen den Dialog mit ihren Göttern wieder anzuknüpfen. Eine von beiden Seiten hat die Verträge gebrochen, die Menschen oder vielleicht sogar die Götter haben ihre Versprechen nicht gehalten: eine Katastrophe droht oder hat schon stattgefunden. Der Regen bleibt aus und gefährdet die Ernte, oder der Blitz hat eingeschlagen und Menschen verletzt oder getötet. Das verlorene Vertrauen muß wiederhergestellt, der Dialog mit den mythischen Kräften wiederaufgenommen werden.
Die Riten sind hierfür zweckmäßige Techniken, und wir bekommen eine Vorstellung davon, was Bataille ihre „tätige Kraft“ genannt hat. Seinem religiösen Kontext entrissen, wird jedoch der Ritus zur ästhetischen Form. Wir erfassen nicht die Bedeutung der Erzählung, dargestellt von besessenen Tänzern oder phantastischen Masken im Rhythmus des Schlagwerks, sondern allein ihre Oberfläche: die Illusion der Körper. Rouch läßt den Film mit dem Ritus zusammenfallen, er spielt mit der „Wirksamkeit der Symbole“
-dem einzigen Sinn, der uns zugänglich sein kann - um die „Geschichte“ zu Ende zu bringen.
Die Tänze haben aufgehört, die Opfer sind vollbracht; die Drohung ist abgewendet, schon fällt der Regen, die Rückkehr zum Alltag ist möglich. Der Film endet in einer Bewegung des Erzähler-Auges, symmetrisch zur anfänglichen: eine Totale, dann ein Auftauchen zum Himmel. Wir haben die Geschichte gesehen und gehört: „Es waren einmal Menschen, die machten Regen“.
Kraft des Simulacrums - Obwohl auf jede Art Drehbuch verzichtet wurde, taucht die Fabel wieder auf; die Wirklichkeit selbst erzählt. Es ist bekannt, daß der religiöse Ritus die Vorform des Wundermärchen bildet. Damit die sichtbare und klangliche Wirklichkeit des Rituals für uns ein „Märchen in Bildern“ wird, paßt Rouch Technik und Material der schriftlosen Überlieferung der Kulturen an, aus deren Imaginärem er schöpft.
Die „filmische Erzählung“ ist bei ihm weder eine Form a priori (literarischer Herkunft) noch ein Produkt der Montage: derselbe Formeffekt stellt sich auch in seinen nicht geschnittenen Filmen ein. Mehr noch: anderen ethnographischen „Sujets“ entsprechen andere Erzählweisen. So nähern sich jene großartigen Episoden von La chasse au lion a l'arc (Die Löwenjagd mit Pfeil und Bogen 1957 bis '64, dann '68) ihrerseits der wahrhaften Epik an.
Rouch stellt diese zum Entdecken des Märchenhaften inmitten der Wirklichkeit geeignete Technik in den Dienst der Fiktion. Selbst da kümmert er sich wenig um die literarischen Konventionen des klassischen Kinos. Er weitet Flahertys Technik der „slight narrative“ auf erfundene Situationen aus. Den Gipfel dieser Technik erreicht Rouch in La pyramide humaine (Die menschliche Pyramide 1959).
Er hat von den alten afrikanischen Weisen gelernt, daß es für die Improvisation einer Geschichte ohne Rückgriff auf die Schrift genügt, in die banale Ordnung des Alltäglichen ein Element der Unordnung einzuführen. Der Träger schlechthin aller Unordnungen ist das Begehren. Und Rouch macht in La Pyramide humaine nichts anderes, als in eine Klasse weißer und schwarzer Jugendlicher aus Abidjan zwei Formen des Begehrens einzufügen: die junge Pariserin Nadine und seine eigene Kamera. Phase der Verführung
Er gibt ein Thema vor: die Verhältnisse zwischen Weißen und Schwarzen; es bleibt nun ihnen überlassen, eine Geschichte zu erfinden. Die Wirklichkeit der Dreharbeit selbst ruft die Fiktion hervor, und deshalb dreht Rouch die improvisierten Szenen in der Folge, die sie im Film haben werden. Mit der Einführung Nadines als „Vermittlerin“ zwischen den bis dahin getrennten Gruppen der Weißen und der Schwarzen stellen sich neue Beziehungen ein.
Nach einer Phase der Verführung, in der sich Individuen und Gruppen einander annähern, kommt es zu dem unvermeidlichen Chaos; es scheint sich mit der Unerbittlichkeit eines Gesetzes auszubreiten. Es folgt die Phase der Rivalitäten; die Wahrheit der Verhältnisse zwischen Weißen und Schwarzen enthüllt sich von selbst. Um der Verfremdung willen führt Rouch die bereits abgedrehten Streifen den Darstellern vor. Wir sehen, wie die Akteure sich in diesem magischen Spiegel betrachten.
Wie kann man dem zunehmenden Ernst, den das fiktive Spiel annimmt, ein Ende setzen, wenn nicht durch eine Austreibung des Chaos: des Dämons des Begehrens? Rouch verschärft die Spannungen zwischen den Akteuren, bis es zu einem symbolischen Kampf kommt, in dessen Verlauf sich dann einer der Anbeter Nadines ins Wasser stürzt und ertränkt. An die Stelle der Spannung treten Vorwürfe und Melancholie. Die Zeit der Fiktion ist beendet. Nadine muß nach Paris zurückfahren, der Film fertiggestellt werden, jeder in seinem Alltag zurückkehren. Alle begleiten die junge Pariserin zum Flughafen, alle außer dem abgewiesenen Liebhaber, der für den Film geopfert wurde. Ist er wirklich tot?
Rouch erweist sich hier als ein Meister der Lüge. Er mischt seine Karten so gut, daß man nicht mehr weiß, wo die Fiktion und wo die Wirklichkeit des Films zu finden sind. Weil er weiß, daß die Kunst Schein ist - und daß die kinematographische Illusion derart vollkommen ist - bringt er uns diese Kraft der Täuschung vollständig zu Bewußtsein. Der „Selbstmörder“ taucht erst in den letzten Sekunden des Films, als sich die Akteure später in Paris wiedersehen, wieder auf, um so das Trugbild, das Simulacrum, zu wahren.
Gegen die klassischen Standards der Ästhetik des Kinomords betont er den Realitätscharakter der Tötung nur, um dann ihren „falschen Schein“ freizulegen.
Lob der Opfergabe - Die Ziege liegt auf dem Boden und wird an den Pfoten festgehalten; ihr Hals wird dem Messer dargeboten. Der Priester durchschneidet die Kehle. Die Kamera hält auf die klaffende Wunde und auf das Spritzen und Fließen des Bluts, sie folgt der über den Boden laufenden dunklen Spur. Unter den gleichen Vorzeichen wie der Tanz begegnet bei Rouch immer wieder die faszinierende und unerträgliche Szene des Opfers. Tänze Besessener oder Maskierter und Tieropfer sind gewiß die zwei entscheidenden Momente der Rituale afrikanischer Kulturen.
Aber sie sind nicht allein für Rouch als Ethnologe von Interesse, sondern ebenso wesentlicher Bestandteil in seinen fiktionalen Filmen. Der tiefere Grund dafür liegt in der geheimen Verwandtschaft zwischen der physischen Wirklichkeit dieser Situationen, der photographischen Empfindlichkeit des Materials und dem Imaginären der Menschen. Die bemerkenswerteste Besonderheit des Mediums (verglichen mit unserer Wahrnehmung) besteht darin, lebendige und tote Objekte strikt auf dieselbe Weise zu behandeln, sie einander homogen zu machen. Das Bild des Todes
Dieses „Entfremden“ der lebendigen Wirklichkeit ist der Grund seiner Affinität zum Tötungsakt. Der dokumentarische Charakter des Bildes ist hier das Entscheidende, denn er versichert dem Zuschauer die Wahrheit des Geschehens. In dieser Szene ist der Sinn am radikalsten außer Kraft gesetzt. Ebenso wie während der Opferung das Opfer der Ökonomie des menschlichen Gebrauchs entzogen und dem Kosmos anheimgegeben wird, entzieht das kinematographische Bild die Physiognomien dem Symbolischen, indem es die Körper in den Stand der Dinge zurücksetzt, sie der Natur zurückgibt.
Das Bild des Todes, so sehr aus unserem Alltag verdrängt, untergräbt die Sprache und bringt für einen Augenblick den Anthropomorphismus unserer Wahrnehmung ins Wanken. Es liefert nicht nur das stärkste Realitätserlebnis im Film, es ist auch der Moment, in dem sich die Besonderheit des photographischen Materials am reinsten abzeichnet; bei Rouch wird das Bild des Opfers zur Parabel des Mediums.
Die der kinematographischen Wirklichkeit eigene Form amputiert unserer Wahrnehmung den Teil, der sie wie kein anderer als menschliche kennzeichnet: die Hand, zugleich das Organ aller Handhabung, des Sprachvermögens und der Lust. Hierin radikalisiert sie aber nur unseren gegenwärtigen Zustand als Augen-Menschen. Um als Ersatz für unsere versehrte und veraltete Hand dienen zu können, hat sich die tragbare Synchronkamera entwickelt.
Mit ihr scheint Balazs‘ Wunschtraum eines neuen Sinnesorgans wirklich geworden zu sein. Sie ist das magische Instrument, das der mythischen Wirklichkeit unserer Maschinenwelt jene Erzählungen abzugewinnen vermag, welche sie bezähmen, um uns ihr einfügen zu können. Aber seit Rouchs anthropologischer Ästhetik besitzt sie auch das komplementäre Vermögen, mit all dem in Verbindung zu treten, was unsere Zivilisation an anderen Kulturen verdrängt hat der Kehrseite der okzidentalen Moderne2.
Das „cinema du reel“ ist die Affirmation einer Kunst (und einer Theorie), die nicht mehr wesentlich Schrift ist. Es ist die mimetische Sprache all jener, die ganz die mächtige Alchimie des photographischen Materials ins Kino zu übernehmen wußten: Flaherty, Vertov, Stork, Ivens... Rouch selbst weiß, nach Art dieser afrikanischen Maitres fous (Herren des Wahnsinns 1955), die in den neuen Riten die Lokomotive und die Kolonialadministration ihrer Mythologie einverleibt haben, daß es keine rein sprachliche Beschwörung der mythischen Gewalten gibt und daß noch keine Form des souveränen Bezugs zur Wirklichkeit die Kraft des Simulacrums entbehren konnte.
Das Kino des Wirklichen entspricht dieser existentiellen Notwendigkeit: so kommt es zur Bejahung des Lebens mitten in der Moderne. Diese charakterisiert vielleicht am besten das Werk und den Menschen Jean Rouch. Am erstaunlichsten jedoch bleibt die ungeheure Verführung, mit der er eine solche Affirmation vermittelt - seine Filme sind ansteckend, sie verbreiten das Begehren des neuen Organs: die Ohr-Auge -Maschine.
Aus dem Französischen von Ralf Fiedler
Anmerkungen:
1 Michel Brault ist der erste - neben Rouch -, der diese Kameratechnik entwickelt hat.
2 Rouchs Werk zeigt, wie die Synchronkamera das klassische Dilemma der Ethnologie revolutioniert. Das Problem wissenschaftlicher Objektivität verschiebt sich in dem Maße, wie sich eine „Kommunikation“ zwischen verschiedenen Kultursystemen mithilfe des synchronen Ton-Bilds über den Umweg des Imaginären tatsächlich herstellt. Dieses allein gestattet eine flüchtige Übereinstimmung der Blicke (d.h. der Begehren), die eine reine symbolische Sprache niemals zuließe. Aus diesem grund ist die visuelle Anthropologie notwendig eine Ästhetik. Die Bemerkung Kracauers, der zufolge die Photographie das exakte Gegenstück des Historismus bildet, hat ihre Wahrheit heute in der Bestimmung jener Verwandtschaft, die Kino und Ethnologie zusammenführt.
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