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...und nun auch Tadschikistan

Der russische Einfluß in der kleinsten mittelasiatischen Republik, die größer ist als Griechenland, hat eine hundertzwanzigjährige Geschichte / Nach zunächst nur sporadischen Übergriffen auf Russen, gab es jetzt in der Hauptstadt Duschanbe die ersten blutigen Unruhen / Anlaß war die Ansiedlung von armenischen Flüchtlingen  ■  Von Susanne Vieth-Entus

Es begann schon lange vor Gorbatschow. Plötzlich erhoben die Einheimischen auf öffentlichen Veranstaltungen die Forderung, Tadschikisch zu sprechen. Neben der Sprache wurde auch die eigene Religion wieder bedeutsam - besonders für die tadschikische Intelligenz. Breite Bevölkerungsschichten folgten schließlich der Linie einer stärkeren Selbstbehauptung im atheistischen Staatswesen, als im Iran die islamische Revolution gesiegt hatte.

Die moslemischen Sitten sind in Tadschikistan ohnehin lebendig geblieben; zudem sind die Tadschiken - anders als die übrigen Moslems Mittelasiens - iranischer und nicht türkischer Abstammung. Die antirussische Stimmung in Tadschikistan wurde also durch die Vorgänge im Iran verstärkt, führte jedoch noch nicht zu Ausschreitungen. Dafür sorgten erst - ebenso wie in den anderen Republiken die Folgen der Perestroika: Die schlechte Versorgungslage stärkt die Unzufriedenheit, und die allgemeine Liberalisierung erleichterte die Artikulation nationalistischer Forderungen. Da Moskau weit ist, mußten zunächst die russischen Nachbarn in Tadschikistan herhalten: Graffiti wie „Tod den Russen“, sieht man mittlerweile oft. Im letzten Jahr kam es so häufig zu Handgreiflichkeiten, daß viele Russen aus Gründen der Selbstverteidigung den Weg zur Arbeit bewaffnet antraten.

Auf diese Situation treffen nun die Armenier - und wirken doppelt provozierend: Erstens übt dieses Volk, das auf eine sehr lange christliche Tradition zurückblickt, seinen Glauben wesentlich aktiver aus als die Russen, und zweitens geschieht ihre Ansiedlung auf Geheiß Moskaus - also wieder ein Eingriff in die tadschikische Selbstbestimmung. Und die wurde in den vergangenen 120 Jahren schon zu oft beschränkt, wie ein Rückblick zeigt.

Die russische Expansion erreichte Mittelasien in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts: 1868 mußte das Emirat Buchara, zu dem ein großer Teil des heutigen Tadschikistan gehörte, das russische Protektorat anerkennen; seitdem konnte es keine eigenständige Außenpolitik mehr betreiben. Wirtschaftlich wurde das Gebiet mit dem russischen Generalgouvernement Turkestan vereint. Seither hat sich die Organisationsform einige Male geändert, aber immer auf Befehl Moskaus, das auch im Zeichen der Oktoberrevolution nicht auf das einmal eroberte Land verzichten wollte: 1929 wurde das Land zur eigenständigen Sowjetrepublik mit der Hauptstadt Duschanbe erklärt.

Die Annexion von 1868 wirkte sich im Gebiet des heutigen Tadschikistan zunächst kaum aus, da es halbsouverän blieb. Man profitierte sogar durch den Handel mit Rußland. Das Postwesen wurde eingeführt, die Armee reorganisiert, der Sklavenhandel abgeschafft. Besonders günstig wirkte sich der Bau der Eisenbahn, die schon 1888 Buchara erreichte, auf das tadschikische Wirtschaftsleben aus. Man war nun im Vorteil gegenüber jenen Regionen, die ihre Waren nur mit Hilfe von Karavanen und Kutschen transportieren konnten. Im übrigen veränderten sich die weltlichen und geistlichen Machtstrukturen kaum: Emir und religiöse Führer behielten ihre Stellung. Unter der einheimischen Intelligenz gab es aber seit der Jahrhundertwende verstärkt Auseinandersetzungen darüber, in welchem Maße man die russische Sprache und Kultur übernehmen sollte. Es bildeten sich verschiedene Richtungen in einer Nationalbewegung, zu der sich viele Moslems im vorrevolutionären Rußland zusammengeschlossen hatten.

Mit der russischen Revolution schien eine Gelegenheit gekommen zu sein, den Status quo in irgendeiner Form zu verändern. Die Autonomiebestrebungen waren jedoch zu heterogen, um sich langfristig gegen die Bolschewiki zu behaupten. Zudem versprachen diese - um weitere Unruhen zu verhindern - Religionsfreiheit, Privatwirtschaft und die Verteilung von Land; letzteres vor allem, um der herrschenden Hungersnot entgegenzuwirken.

Im Emirat Buchara konnte sich der Emir bis 1920 halten. 1921 wurde auch die einheimische Linke ins politische Abseits gedrängt, obwohl sie aufgrund ihrer politischen Überzeugung mit der Moskauer Regierung zusammengearbeitet hatte; die Hegemonialmacht wollte lieber ihre eigenen Leute in die Schlüsselpositionen setzen.

In den zwanziger Jahren hatte eine tiefere Verschmelzung mit der Gesamtwirtschaft der Sowjetunion eingesetzt. Damit ging die Forderung aus Moskau einher, vor allem Erzeugnisse zu liefern, die in den übrigen Landesteilen nicht gediehen. Dies führte zur Entstehung einer Monokultur - vor allem Baumwolle - und damit zur Vernichtung der Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln: Die Tadschiken wurden so von der Sowjetwirtschaft abhängig. Hinzu kam die gewaltsame Einführung des Systems der Kollektiv- und Staatsgüter. Da Tadschikistan Agrarland geblieben ist, beherrscht die Baumwolle seither das gesamte Wirtschaftsleben. Die erzwungene Abschnürung vom Weltmarkt verstärkte die Stagnation. Entgegen ihren Versprechungen hielten die Machthaber auch am Postulat der Religionsfreiheit nicht fest. Es kam zu erheblichen Einschränkungen auf diesem Gebiet: Viele Moscheen und Koranschulen wurden geschlossen. In abgeschwächter Form traten auch in Mittelasien stalinistische Säuberungen auf, die sich vor allem gegen nationalistische und religiöse Aktivitäten wandten. Auf kulturellem Gebiet erschwerten die Forderungen des „Sozialistischen Realismus“ eine eigenständige Entwicklung; die tadschikische Literatur und Bildende Kunst kann die verlorene Zeit kaum aufholen.

Ein großes Verdienst der russischen Verwaltung ist jedoch die Beseitigung des Analphabetentums. Allerdings kam dies weniger der tadschikischen als der russischen Sprache zugute: Die Schüler lernen das Russische von der dritten Volksschulklasse an; die Nationalsprache bleibt dann in der Stundenzahl zurück. Neben dem Schulwesen fördern auch Gerichts- und Verwaltungswesen die Zurückdrängung des Tadschikischen - einheimische Idiome wurden ausgemerzt.

Ähnlich steht es um die wissenschaftlichen Veröffentlichungen: das Russische herrscht vor. Heute müssen die Tadschiken erkennen, daß sie über keine eigene Hochsprache verfügen. Sie erwägen daher jetzt, die Sprache von einem ihrer Dichter zur Norm zu erheben, die dann auch von den Russen erlernt werden soll. Diese geben den Tadschiken selbst die Schuld am Zustand ihrer Sprache: Die tadschikische Intelligenz habe nicht genug getan für eine gute Qualität des Unterrichts und der Schulbücher. Fraglich ist aber, ob die russische Verwaltung solche Möglichkeiten der Einflußnahme überhaupt bot.

Jenseits aller Schuldzuweisungen muß man heute einfach konstatieren, daß die russische Kultur aus Tadschikistan nicht mehr wegzudenken ist. Viele Eltern sind ratlos, weil ihre Kinder die eigene Sprache schlechter sprechen als das Russische. Befragt nach ihrem Lieblingsdichter nennen heute viele tadschikische Jugendliche russische Namen. Das Jugendtheater von Duschanbe versucht jetzt, neue Zuschauer zu gewinnen, indem es kämpferische Stücke spielt. Doch läßt sich damit das Defizit an hochrangiger zeitgenössischer Literatur in Tadschikistan kaum vertuschen.

Von den über vier Millionen Einwohnern Tadschikistans sind heute sechzig Prozent Tadschiken und zwanzig Prozent Usbeken. Die Ministerposten werden überwiegend durch Einheimische besetzt, die jedoch nur aus den Reihen moskautreuer Kommunisten rekrutiert werden. Auf vielen entscheidenden Posten in den Ministerien und der Verwaltung sowie an der Stelle des Zweiten Sekretärs der KPdSU sitzen Russen. Was dabei für besonderen Unmut sorgt, ist die Tatsache, daß diese Russen oftmals aus anderen Republiken herangezogen werden und mit den örtlichen Gegebenheiten nicht vertraut sind.

Die so in Jahrzehnten gewachsene Unzufriedenheit verstärkt durch das Gefühl, für die Russen nur Menschen zweiter Klasse zu sein - sucht seit langem nach einem Ventil; die gelegentlichen Übergriffe auf Russen kündigten die Gefahr an, ließen jedoch die Frage offen, ob und wann es zu Ausschreitungen großen Stils kommen würde.

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