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Heimkehr in die alten Jagdgründe

■ Heidi Harmat aus Montreal, Ex-Ost-Berlinerin und Gastreporterin bei der taz, über ihr erstes Wiedersehen mit Ost-Berlin / Den ersten Schritt in die alte Heimat tat sie auf einem organisierten Sightseeing-Spaziergang vom Potsdamer Platz aus

Der unerwartete Übergang vom bitterkalten Winter im kanadischen Montreal zum vergleichsweise milden Frühjahrssonnenschein in Berlin allein ist schon nicht leicht zu verdauen. Die nicht abreißende Kette von Attacken auf den emotionalen Solarplexus, denen man als ehemalige Berlinerin bei einem zwischengeschobenen Aufenthalt in den alten Jagdgründen von allen Seiten ausgesetzt ist, pariert sich schon ein ganzes Stück schwerer.

Da packt eine Ostberliner Lehrerin eines Tages der große Frust, sie pfeift auf die damals immerhin noch möglichen Konsequenzen, läßt alles stehen und liegen und haut ab. Die Flucht endet allerdings nicht einfach auf der anderen Seite der Stadt, sondern auf der anderen Seite des Atlantik. Man meint, damit den ganzen öden deutschen Ballast endgültig über Bord geworfen zu haben. Je länger man aber in der Ferne lebt, desto klarer wird es, daß die Wurzeln doch zu tief sitzen, um alles vergessen zu können. Im Gegenteil: Ereignisse, Personen aus den Berliner Zeiten werden ihrer Widersprüchlichkeit beraubt und kriegen in der Erinnerung einen so schön leuchtenden, fast fleckenlosen Glorienschein, daß man sich doch tatsächlich gelegentlich fragt, warum man eigentlich überhaupt erst weggegangen ist.

Gottlob halten solcherart verklärte Entrückungen nie lange genug vor, um dem Gemüt bleibenden Schaden zuzufügen. Aber man wird hellhörig, wenn die Rede auf Deutschland Ost oder West kommt, und saugt jede verfügbare Information zu diesem Thema ganz gierig auf.

Seit die Ereignisse im von fern gelobten Land sich tagtäglich überschlagen, ist kein Halten mehr. Man muß dabei sein - und zwar mittendrin. Also auf nach Berlin, den immer noch völlig irreal anmutenden Gedanken an freien Zugang von West nach Ost und sogar wieder zurück während der ganzen Reise in allen möglichen und denkbaren Varianten durchspielend. Absoluter Höhepunkt dieser verschiedenen Szenarien ist allemal die Vorstellung, ungehindert unterm Brandenburger Tor herzugehen - und zwar vor und zurück.

Zu dem Zeitpunkt hat man noch keinen Schimmer von den schon rein äußerlich veränderten Realitäten, denkt noch in alten Dimensionen und ist wenig oder gar nicht auf den zunächst mal nur visuellen Schock vorbereitet, der einem noch bevorsteht.

Was also tut man zuerst nach zehnjähriger Abwesenheit in Berlin? Man strebt der nächstbesten Kneipe entgegen und trinkt ein Pils, gaaanz langsam und genüßlich, um den Unternehmungsgeist in erfolgversprechende Bahnen zu lenken. Dann sucht man nach einer möglichst rationellen Art, den dringenden Wunsch nach Intimkontakt mit beiden Stadthälften postwendend zu realisieren. Und wie's der Zufall so will, wird just an diesem Tage zum ersten Mal eine Gesamtberliner Innenstadtbegehung zu Fuß veranstaltet. Initiatoren dieser Idee sind Lothar Schubert und Armin A. Woy von „plus punkt“. Dies ist ein gemeinnütziger Verein, dem berufliche, kulturelle und politische Weiterbildung am Herzen liegt.

Los ging's am Anhalter Bahnhof, durch die Friedrichstadt West in die Friedrichstadt Ost über den Grenzübergang Potsdamer Platz. Das war der Punkt, wo ich zum ersten Mal dieses Herzklopfen spürte beim Anblick der Völkerwanderung in beide Richtungen. Der Eintritt in den Ostteil war ein emotionaler Schuß in den Ofen, denn von den alten Bildern paßte keines mehr. Dies wurde um so deutlicher, je weiter man lief, von der Friedrichstadt in die Dorotheenstadt, die Mohren- und dann Mauerstraße entlang, dann über die Nuschkestraße an die Friedrichstraße. Alles, was Interessantes am Wege liegt, wurde ausführlich erklärt, lebhaft mit Anekdötchen geschmückt, die besonders am Platz der Akademie, früher Gendarmenmarkt, an Breite zunahmen.

Vor zehn Jahren gab es diese architektonische Wiederbelebung noch gar nicht, man kommt aus dem Staunen kaum heraus. Dann ging's über die Behrenstraße hinten an den Prachtbauten von Unter den Linden entlang bis zum Pariser Platz vorm Brandenburger Tor.

Vor mehr als zehn Jahren schickte man von der Humboldt -Universität aus vielleicht mal einen Blick in diese Richtung und widmete sich dann wieder den staatlich vorgeschriebenen marxistischen Abgrenzungstheorien. Jetzt ist die Mauer nur noch pockennarbig vom Meißelansatz Tausender, löchrig und durchlässig. Das Treiben auf dem Sims und die Möglichkeit, einfach schräg über die Wiese zurück auf die andere Seite zu wandern, ist ein Erlebnis, das erst mal langsam verdaut werden muß.

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