: Die Angst vor der Zukunft wächst
DDR-Volkskammer debattiert über die „deutsche Frage“ / Die Konservativen weichen der Auseinandersetzung aus / Bitterkeit wegen Behandlung der DDR-Delegation in Bonn / Appell für Erhalt von Restbeständen der DDR-Identität ■ Aus Ost-Berlin Walter Süß
Die Aussprache „zur deutschen Frage“ wurde zu keiner großen Stunde der Volkskammer der DDR. Weder die gewendeten alten Parteien noch die neuen politischen Kräfte, die dort inzwischen Rederecht haben, nutzten - mit wenigen Ausnahmen
-die Gelegenheit, um ihre Grundsatzpositionen darzulegen und zu debattieren. Dabei hätte es genügend Zündstoff gegeben, über den zu streiten lohnt: Tempo und Modalitäten des Einigungsprozesses, die Konsequenzen der Umkrempelung der DDR-Gesellschaft durch die Einführung der Marktwirtschaft, die mit der Vereinigung verbundenen internationalen Probleme, die Frage, was es an Bewahrenswertem in der DDR gibt und wie damit umzugehen sei. Alle diese Punkte wurden angesprochen, doch es wurde kaum darüber gestritten, weil der Gegenpol fehlte. Die Konservativen hielten sich bedeckt. So bei einem der Hauptthemen der politischen Auseinandersetzung der letzten Tage: der Idee, die Länder der DDR könnten sich gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes an die BRD anschließen. In der DDR war diese Konzeption in der vergangenen Woche zum Beispiel vom Vorsitzenden des konservativen Demokratischen Aufbruchs, Wolfgang Schnur, propagiert worden. Der Sprecher der PDS, Wolfgang Pohl, wies jetzt in der Volkskammer darauf hin, „daß das Herausbrechen einzelner Gebiete nach geltendem Strafrecht als Hochverrat zu werten wäre“. Hinter dem Redner saß Rainer Eppelmann, der den Demokratischen Aufbruch in der Regierung vertritt. Doch er fühlte sich nicht bemüßigt, das Wort zu ergreifen, um die Parteiposition zu vertreten. Solches Schweigen hatte Methode.
Von seiten jener Parteien oder Organisationen, die keine direkten Kanäle in den Westen haben, wurde die Behandlung der DDR-Regierungsdelegation in Bonn bitter beklagt. In der Rede des CDU-Vorsitzenden de Maiziere aber dazu kein Wort. Dabei hatte sein wirtschaftspolitischer Sprecher, Kübler, gestern noch ausdrücklich „Verständnis“ dafür geäußert, daß die Regierung Kohl nicht bereit sei, „vor dem 18.März Millliardensummen in die marode DDR-Wirtschaft zu pumpen“. De Maiziere nutzte seine Redezeit lieber dafür, die Vorzüge der DDR-Verfassung von 1949 zu schildern, die wieder in Kraft zu setzen er aber trotzdem nicht beantragte. Der LDP -Vorsitzende Ortleb monierte immerhin vorsichtig „Zögerlichkeit und manchmal auch Doppelbödigkeit in Verlautbarungen aus der anderen Richtung“. Vor allem aber und damit handelte er sich ziemlichen Unmut ein kritisierte er „die Halbherzigkeit der Regierung“ der DDR bei der Einführung der Marktwirtschaft als die eigentliche Ursache für aufkommende „soziale Ängste“. Von jenen Parteien mit Verbindungen besonderer Qualität in den Westen wurde einzig der SPD-Minister Walter Romberg deutlicher: „Wahlkampf in der DDR, Deutschlandpolitik auf der Seite der BRD ist leider zunehmend eine Funktion der innenpolitischen Auseinandersetzungen in der BRD geworden.“
Den klarsten Beitrag zu der Debatte hielt die Sprecherin der FDJ-Fraktion, Cornelia Wolfram, die dafür auch den größten Applaus erhielt. Sie erinnerte daran, daß vor wenigen Wochen noch im gleichen Haus über „die Zukunft der DDR“ gesprochen worden war, „von einer Chance zur demokratischen Erneuerung, zur endlich freien Selbstbestimmung“. Davon sei wenig geblieben, denke man nur an den Besuch in Bonn. „Die neuen Minister des Runden Tisches (...) wurden gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten in Bonn nicht wie revolutionäre Demokraten, geschweige denn wie wichtiger Staatsbesuch behandelt. Nach Aussagen westlicher Zeitungen beschied man sie wie Bittsteller auf dem Sozialamt.“ Sie meinte, „daß auf diese Weise letzte Reste von Selbstbewußtsein und die Versuche, wenigstens in einigen Bereichen DDR-Identität und DDR-Leistungen in eine gemeinsame Zukunft einzubringen, restlos demontiert werden sollen“. Ihre Forderung, daß diejenigen, denen „der Spruch von der sozial und ökologisch orientierten Marktwirtschaft wie Milka-Schokolade von der Zunge geht“, offen über die sozialen Konsequenzen sprechen sollten, wurde nicht erfüllt. Dennoch, die Debatte machte deutlich, daß die Sorge gerade um diese Aspekte an Boden gewinnt. Obwohl diese Volkskammer nicht demokratisch gewählt worden ist, könnte sie in dem Punkt durchaus eine breite Stimmung im Lande repräsentieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen