piwik no script img

Das jüngste Opfer ist zweieinhalb

■ Seit Mittwoch findet in der TU ein internationaler Kongreß zum Thema „Sexueller Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen“ statt

Seit dem 21.Februar läuft in der TU Berlin der Kongreß „Sexueller Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen“. Vor allem aus den USA und England kommen die Referenten, die ihre Erfahrungen und neue Konzepte vorstellen. Die 350 Kongreßteilnehmer sind Leute, die beruflich mit dem Problem des sexuellen Mißbrauchs zu tun haben. Viele der Vortragenden sind Leiter von Kliniken oder hochspezialisierten Kinderschutzzentren, während die Zuhörer meist Sozialarbeiter, Therapeuten sind oder ehrenamtlich arbeiten.

Die meisten Beratungsstellen hier sind noch sehr jung, so auch die in Charlottenburg ansässige Beratungsstelle „Kind im Zentrum“ (KIZ) oder das feministisch orientierte Beratungszentrum „Wildwasser“ in Kreuzberg. Die Nachfrage steigt jedoch, „Wildwasser“ hatte allein in den ersten neun Monaten des Bestehens 266 Erstgespräche. Bei KIZ waren es im ersten Jahr etwa 300, 1989 bereits 450. In der ersten Zeit kamen vor allem Jugendliche, zunehmend werden jedoch immer mehr kleine und Kleinstkinder betreut. Das jüngste mißbrauchte Kind, um das sich zum Beispiel KIZ kümmert, ist zweieinhalb.

Wieviele Kinder Opfer sexuellen Mißbrauchs werden, ist schwer zu sagen. In der BRD wurden 1988 13.179 Sexualdelikte registriert - die geschätzte Dunkelziffer liegt jedoch zwischen 150.000 und 300.000. In Berlin wurden vor zwei Jahren 605 Anzeigen aufgenommen. Eine aktuelle Studie aus den Niederlanden weist nach, daß 34 Prozent aller Mädchen unter 16 Jahren sexuell mißbraucht wurden. Während sich die Frauen von Wildwasser darauf beschränken, mit den mißbrauchten Mädchen zu arbeiten, arbeitet KIZ familienzentriert. Bei der Beratung und Betreuung wird jedoch die ganze Familie einbezogen.

Ziel ist dabei nicht, auf jeden Fall die Familie zusammenzuhalten oder gar zu therapieren. Vielmehr muß eine Entscheidung gefällt werden, ob die Familie weiter zusammenbleiben kann oder eine Trennung notwendig ist. Dabei geht es auch darum, Verhaltensmuster deutlich zu machen, denn häufig geraten Mißbrauchte wieder an Mißbraucher. Viele der Täter stammen aus Familien, in denen es ebenfalls sexuellen Mißbrauch gab. In Gesprächen mit ihnen geht es darum, überhaupt erstmal ein Bewußtsein dafür zu schaffen, was sie ihren Töchtern angetan haben.

Das wichtigste ist jedoch, den betroffenen Mädchen zu helfen, damit sie lernen, wieder Kind zu sein und nicht länger gezwungen sind, durch ihr Opfer die Familie zusammenzuhalten. Gerade bei kleinen Kindern ist eine Therapie jedoch sehr schwer und aufwendig, so daß zum Beispiel die dreieinhalb Stellen, die KIZ hat, nicht ausreichen. Wenn die Zahl der Anfragen weiter steigt, werden die Frauen aus den Beratungsstellen die Arbeit bald nicht mehr schaffen, trotz viel ehrenamtlichem Einsatz. „Dann haben wir irgendwann eine Warteliste“, so die Frauen von KIZ.

Therese Walther

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen