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Teutomanie und Pascals Gesetz

Ein Plädoyer aus Paris gegen das „Naturrecht auf deutsche Einheit“  ■ D E B A T T E

Zum ersten Mal hat sich in Frankreich ein Intellektueller in aller Öffentlichkeit ausführlich und kritisch mit der deutschen Einheit auseinandergesetzt. Fazit: Nicht viel spricht für eine staatliche Einheit der Deutschen, sehr vieles dagegen. Serge-Christophe Kolm ist Politökonom an der renommierten Sozialwissenschaftlichen Fakultät EHESS Paris.

Über die kurioserweise „deutsche Wiedervereinigung“ genannte Frage muß endlich einmal laut zu bedenken gegeben werden, was fast alle insgeheim fühlen. Ohne groß nachzudenken, reden unsere Politiker vom „deutschen Volk“, der „deutschen Nation“, von Deutschland als Vaterland (was so viel stärker und beeindruckender klingt als „patrie“), sprechen von Menschen mit „einer gemeinsamen Geschichte“, deren „Wiedervereinigung“ natürlich wäre und verweisen auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. (...)

Diese ganze Aufregung beruht auf einem dreifachen Mißverständnis der deutschen Gegebenheiten, des Völkerrechts und der Vernünftigkeit einer solchen Option. Wir müssen uns mit den Deutschen gründlich über diese Dinge auseinandersetzen und dürfen keine kurzfristige Politik machen, die darin besteht, wahltaktische nationalistische Entgleisungen gutzuheißen und sich mit dem Linsengericht vager europäischer Deklarationen zufriedenzugeben. Auf die Dauer riskieren wir damit nur, den Zauberlehrling zu spielen.

Die Rationalität dieser Stunde ist diejenige der Wette von Pascal: Wenn etwas nur mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit eintreten kann, dann aber unendlich schwer wiegen würde, so darf das Risiko nicht eingegangen werden. Vor allem nicht, wenn es durch nichts anderes gerechtfertigt ist.

Diese Rechtfertigung der staatlichen Einheit läge in dem Wunsch der Mehrheit der Deutschen. Es handelt sich also darum herauszufinden, ob es ein Recht auf staatliche Einheit gibt, ob dieser Wunsch legitim ist und ob die staatliche Einheit andere derart berühren würde, daß ihre Meinung mitberücksichtigt werden muß.

Das „Recht der Völker auf Selbstbestimmung“ bezeichnet nach der Unterscheidung von Isaiah Berlin eine „negative Freiheit“, also eine defensive und nicht eine positive. Es geht um das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung des Artikels 2 der Menschenrechtserklärung, also um das Recht darauf, nicht unterdrückt zu werden. Es handelt sich aber nicht um das Recht, irgendeine beliebige politische Einheit herzustellen.

Die einzige Anwendung in bezug auf die deutsche Frage war das Recht der DDR, nicht den Russen unterworfen zu sein. Heute kann dieses Recht noch auf die Tibeter beispielsweise angewandt werden, nicht mehr auf die Deutschen. Der Anschluß von 1938, realisiert mit einer immensen (Stimmen-) Mehrheit in Deutschland und Österreich, um ein Großdeutschland zu errichten, war keine legitime Anwendung des Rechts auf Selbstbestimmung. Ebensowenig rechtfertigte das Recht der Sudetendeutschen ihre Annexion (vom Recht der Tschechen ganz zu schweigen).

Warum nun wollen die Deutschen einen einzigen Staat? Gewiß nicht, um sich zu verteidigen, denn die BRD ist schon jetzt das mächtigste Land der Region (bisher nur wirtschaftlich, aber das andere kann sehr schnell folgen). Die DDR kann Demokratie und Markt bei sich einführen, ihre Grenzen öffnen und dabei ein eigener Staat bleiben.

Die deutsche Sprache wird auch in Eupen, Strasbourg, Zürich, in Wien, Bozen und an der Wolga gesprochen. Ein Gefühl von Kulturgemeinschaft, die Liebe zu ihrer Kultur braucht keinen Einheitsstaat.

Die deutsche Einstaatlichkeit ist auch keine historische Tradition, sondern eine kurzes Zwischenspiel von einem dreiviertel Jahrhundert, das vor bald einem halben Jahrhundert endete: Sie wurde geboren in Versailles auf den Trümmern des Frankreich von 1870, und sie starb in Berlin inmitten der Ruinen des Europa von 1945. (...)

Es bleibt also nur eine einzige Antwort. Eine Antwort, gestützt auf die Tatsache, daß der einzige wirkliche Effekt, den die staatliche Einheit haben kann, der Zugewinn an Macht ist, und durch die Analyse eines unterschwelligen Gefühls: einer Befindlichkeit - einer adrenalinen Störung -, die nach dem Tod Goethes auftauchte und von Heinrich Heine „Teutomanie“ genannt wurde. Andere nannten es, etwas gewichtiger, den deutschen, pangermanischen Nationalismus. (...)

Das Naturrecht auf Freiheit rechtfertigt die Vereinigung der Deutschen, aber nicht die „Wiedervereinigung der Deutschlands“. Diese wäre in der Tat eine Assoziation, die dem Naturrecht der anderen auf Sicherheit untergeordnet ist. In geschichtlicher Hinsicht läßt sich hieraus ein Recht der Nicht-Deutschen auf die staatliche Nicht-Wiedervereinigung Deutschlands ableiten. Das Recht, die Regierung zu ändern, ist etwas anderes als das Recht, die Zahl der Regierungen zu ändern. Es gibt gegenüber anderen Rechten kein Naturrecht der Deutschen, eine einzige staatliche Einheit wiederherzustellen.

Das Recht der Nicht-Deutschen könnte sich in einer Abstimmung über die Einigung äußern, untereinander oder gemeinsam mit den Deutschen. Zum Beispiel könnten die Bürger all jener Länder abstimmen, die die deutsche Okkupation ertragen mußten. Aber auch die Konzeption eines geschichtsvergessenen, konföderierten und friedlichen Europa führt zum gleichen Ergebnis: Wenn zwei Schweizer Staaten oder Kantone fusionieren wollten, müßten sie per Abstimmung das Einverständnis aller Schweizer bekommen. (...)

Es ist gut und richtig, daß die Existenz Deutschlands seine Essenz verwirklicht. Nur, die Essenz ist kein Gebiet (welches wäre es denn?), ebensowenig eine Sprache (davon gibt es mehrere) oder ein Sprachgebiet (Millionen aus dem alemannischen Sprachraum stehen einer deutschen Einstaatlichkeit radikal entgegen). Sie liegt auch nicht in einem Staat (davon gab es Hunderte), einer Religion noch einem „Blut“ oder einer „Rasse“ (so vermute ich) noch in einem Volk oder einer Nation, beides Begriffe ohne Sinn, die man pfeift, um Bären zum Tanzen zu bringen. (...)

Deutschland ist, jenseits von all diesen Konzepten, eine tiefe und reiche Zivilisation, (...) ein Dutzend Staaten teilen sich die Ehre, seine Kultur zu beherbergen, und nichts rechtfertigt es, ihre Zahl auf eins zu reduzieren. (...) Der verläßlichste Feind der Größe Deutschlands waren stets die Großdeutschlands. Welche andere Lehre könnte aus der Geschichte gezogen werden?

Zur Schlußfolgerung. Helfen wir dem Recht und der Demokratie in Ostdeutschland, helfen wir bei der Entstehung eines Marktes, den die anspruchsvolle Moral des Luther -Landes und die übriggebliebenen Reste des sozialistischen Ideals kontrollieren werden, tun wir alles, um es in Europa zu integrieren, öffnen wir alle Grenzen - aber lassen wir die Staaten Staaten bleiben. Fördern wir dafür die Dezentralisierung dieses Deutschlands in autonome Länder und deren Stärkung. In einer Zeit, wo die Nationalstaaten Macht verlieren, machen wir keinen Finger krumm, um ein Räderwerk anzutreiben, das den schlimmsten aller Nationalstaaten wiederherstellen könnte. (...) Jetzt, wo die extreme Rechte in Europa hochkommt, wollen wir die Garantie, daß die Welt nicht mehr vor den Zufällen der deutschen Innenpolitik zittern braucht. Und um zu zeigen, daß wir es ernst nehmen mit der Freiheit: ziehen wir unverzüglich die absurden Besatzungstruppen ab.

Deutschland hat jetzt eine einzigartige Gelegenheit, etwas gutzumachen auf dem Weg zu Frieden und Freiheit. Die jüngsten Ereignisse geben ihm eine historische Berufung, Europa das Beispiel zu demonstrieren, das es am nötigsten braucht: Grenzen zu vergessen, anstatt sie zu „berichtigen“.

Serge Christophe Kolm Übersetzung: sm

Stark gekürzter und in Absprache mit dem Autor korrigierter Beitrag aus 'Le Monde‘, 21.2.1990.

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