: Panik bei DDR-Mietern
■ Bundesdeutsche Eigentümer rüsten zum Häuseraufkauf
Ost-Berlin (dpa) - Die Potsdamer Familie Neßler hatte am Wochenende merkwürdigen Besuch. Während der sonntäglichen Mittagspause sichtete der Hausherr zwei gut gekleidete Herren im Garten, zwanzig Meter weiter einen Mercedes. Nachfragen ergaben: Die Herren, Rechtsanwälte eines Göttinger Fabrikanten, waren geschickt, das Grundstück ihres Klienten zu inspizieren. Vor dreißig Jahren mußte er es abgeben - Enteignung durch die Kommunale Wohnungsverwaltung der DDR.
Die ungebetenen Besucher überreichten Neßler einen Fragebogen, von dem er jetzt noch nicht weiß, ob er ihn beantworten soll. „Wenn ich erst mal anfange, mich auf diesen angeblichen Besitzer einzulassen, werden wir womöglich gleich eingesackt“, befürchtet der 52jährige Familienvater.
Mit seinen Ängsten steht Neßler nicht alleine. Seit die Grenzen zur DDR offen sind, erleben die DDR-Bürger eine Art Immobilien-Tourismus. Tausende von Westdeutschen, die nach 1945 enteignet wurden, die Besitz geerbt haben oder als Übersiedler Eigentum zurücklassen mußten, melden nun Ansprüche an auf Grundstücke und Häuser, die ihnen zumindest dem Papier nach gehören. „Klar, daß bei unseren Bürgern Panik aufkommt“, sagt Uta Fellien vom gerade gegründeten Mieterbund DDR. „Wir haben doch gedacht, unsere Mietverträge gelten unangetastet Hunderte von Jahren.“
Neßler befürchtet eine saftige Mieterhöhung, falls dem Göttinger sein einstiger Besitz zugesprochen werden sollte. Seit zwei Jahrzehnten bezahlt er 300 DDR-Mark Miete im Monat, eine Mark pro Quadratmeter. Angst befällt die meisten Bewohner von großen Altbauwohnungen und Häusern im Grünen schon bei dem bloßen Gedanken an westliche Mietpreise. „1.200 Mark sind für die im Westen ja ein Klacks“, schimpft Neßler. Sein Gehalt ginge dann mit der Miete drauf - wie für die meisten DDR-Bürger. „Die Ungewißheit macht uns fertig“, sagt eine Hausfrau, vier Kinder, im Stadtteil Prenzlauer Berg.
Wie sie strömten Hunderte von Ost-Berlinern zur ersten Sprechstunde des neu gegründeten Mieterbundes DDR, der nun versuchen will, DDR-Bürger vor Rausschmiß und drastischen Mieterhöhungen zu schützen. Hauptziel: Die Gründung von genossenschaftlich organisierten Mieterverbänden und das Vorkaufsrecht für Mieter von Häusern. „Die größte Panik haben Rentner und alleinstehende Mütter, die höhere Mieten überhaupt nicht verkraften könnten“, erzählt Uta Fellien, die nach Feierabend mit drei weiteren Freiwilligen die Wohnungssorgen ihrer Mitbürger bearbeitet.
Sabine Heimgärtner
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