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Billiglohnländer vor der Haustür

■ Aber bislang sind die Aussichten noch vage, daß Investitionen in Osteuropa solche aus der Dritten Welt abziehen / Entscheidend: Markteroberung oder Billigproduktion?

Geh doch rüber in den Osten - der bösgemeinte Rat an Linke von einst hat sich jetzt zur guten Losung des bundesdeutschen Kapitals gemausert. Von Audi bis Zeiss blicken alle in Richtung Sonnenaufgang und sondieren neue Produktionsstandorte. Billige Löhne locken. Müssen die traditionellen Billiglohnländer der Dritten Welt, die auf Direktinvestitionen aus den Industriestaaten erpicht sind, die neue Standortkonkurrenz fürchten?

Schon bei Audi deutet eigentlich alles darauf hin: „Ungarn schlägt Portugal. Nicht nur preislich. Die können dort deutsche Zeichnungen lesen. Und für die Portugiesen bräuchten wir Übersetzer.“ Mit dieser Begründung erklärt Ferdinand Piech, Vorstandsvorsitzender des Ingolstädter Automobilunternehmens, offenherzig seine Überlegungen, das neue Motorenwerk möglicherweise nicht - wie geplant - in Südwest-, sondern in Südosteuropa errichten zu wollen. Es geht um 2.000 Arbeitsplätze.

Aber auch wenn der Wille zu verstärkter Kooperation mit Firmen in Osteuropa und der DDR quasi zu einem Formel-Eins -Kampf um die ersten Plätze in der Autobranche geführt hat, so mobil ist man denn doch (noch) nicht, daß die Planungen für andere Auslandsinvestitionen massenhaft über den Haufen geschmissen würden. VW und Opel, die jetzt beide um die Fabriken von Trabant und Wartburg buhlen, weisen Unterstellungen weit von sich, all das ginge auf Kosten von Investitionen in Entwicklungsländern. VW-Sprecher Peter Schlelein macht geltend, daß die Länder in Osteuropa perspektivisch „ein neuer Markt mit recht beachtlichem Potential“ seien.

Bei Mercedes-Benz denkt man praktisch und flächendeckend: „Wir tun das eine, ohne das andere zu lassen.“ Die Planung, mit MAN bei Pegaso in Spanien einzusteigen und in der Türkei aufzustocken, bleibt. Nun wird einfach außerdem mit dem DDR -Kombinat IFA über Kooperationen in Sachen Nutzfahrzeuge und mit der UdSSR über Autobusproduktion verhandelt. Die Sindelfinger, die schon aus Imagegründen ihre Kapazitäten eher geringer als möglich halten, denken dabei nach Auskunft von Firmensprecher Hans-Georg Kloos weniger an den Ausbau der Produkionsmöglichkeiten: „Wir wollen einfach auf allen möglichen Märkten der Welt vertreten sein.“ Deshalb werde man auf jeden Fall auch mittelfristig in Asien noch zulegen.

Der Kölner Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) geht zumindest von einer Tendenzwende aus. „Die relative regionale Nähe, die bessere Infrastruktur, aber auch die im Vergleich zur bundesdeutschen ähnliche Industriestruktur in der DDR und der CSSR“ würde nach Ansicht von BDI-Sprecherin Claudia Wörmann dazu führen, daß sich „so etwas wie bei Audi öfter abspielen wird“. All diese Vorteile, die die Noch -Billiglohnländer in Osteuropa jetzt gegenüber der Dritten Welt auszeichnen, könnten jedoch gerade deswegen schnell dazu führen, „daß die Lohnkostenvorteile verschwinden“. Wichtig sei auch, wie schnell die jetzigen RGW-Länder dort aufholen, wo die Dritte Welt derzeit unschlagbar ist - bei den staatlichen Rahmenbedingungen für Investitionen: Höchstgrenzen der Beteiligungen, Sicherheiten durch Investitionsschutzabkommen.

Inwieweit zusätzliches Engagement in Osteuropa zu Lasten der Dritten Welt geht, hängt vor allem davon ab, für welche Märkte an den neuen Standorten produziert wird. Geht es nur darum, neue Märkte aufzubauen, so wird es die südamerikanischen Dependencen nicht tangieren, wenn die bundesdeutsche Muttergesellschaft im tschechoslowakischen Bratislava moderne Kühlschränke für Ost-Mitteleuropa baut. Anders sieht es schon aus, wenn Umschichtungen innerhalb eines internationalen Fertigungsverbundes - etwa wie bei Audi - laufen. Und da macht die Nähe zum Standort, in dem letztlich die Komponenten zusammengefügt werden, schon eine ganze Menge aus.

Große Bedeutung könnte hier die „Just-in-time-Produktion“ erlangen. Da die Lagerhaltung immer teurer wird, gehen größere Konzerne mehr und mehr dazu über, etwa benötigte Hosenknöpfe nicht mehr vier, fünf Mal pro Jahr in großen Behältnissen ankarren zu lassen, sondern ihre Zulieferer zu minutiös eingehaltener Dauerbeschickung anzuhalten. Dies hat nach Erkenntnissen von Klaus-Dieter Schmidt aus dem Kieler Institut für Weltwirtschaft bereits zu Rückverlagerungen von Teilefertigungen aus fernen Ländern in die Heimat geführt. Darin liege nun eine Chance, wenn sich die CSSR etwa im grenznahen Böhmerwald auf die Produktion von Sitzen für BMW im oberpfälzischen Wackersdorf verlegt.

Schmidt sieht zwar insgesamt eine Reihe von Vorteilen Osteuropas gegenüber Asien, Afrika und Lateinamerika kürzere Transportwege, bessere Infrastruktur und sprachlich besondere Chancen für die Deutschen. Der vielfach hochgelobte Qualifikationsvorsprung sei jedoch nicht so deutlich, daß sich dort jetzt Arbeitsplätze mit äußerstem Bedarf an gutausgebildetem „Humankapital“ ansiedeln könnten. Chancen bestünden hier vor allem „im mittleren Sektor“, etwa im Agrarbereich, der Papier-, der Leichtindustrie und auch in der Textilherstellung. All dies seien ohnedies Bereiche, in denen die RGW-Staaten über die vergangenen Jahrzehnte gewaltige Marktanteile an die Drittweltstaaten verloren haben. An den Gründen dafür - der totalen Verzerrung zugunsten einer aufgeblähten, veralteten Schwerindustrie und einer unproduktiven Arbeitsteilung innerhalb des RGW - werde die Industriestruktur im Osten aber noch eine ganze Weile zu knabbern haben.

Ulli Kulke

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