Es rapt, schnulzt, groovt und swingt

Viel Exzentrik beim Berliner Musikspringen, und Amateur Sonn zeigt den müden Hochsprungprofis, wo die Latte liegt  ■  Aus Berlin Micha Schießl

„Ich falle richtig in Trance, vergesse alles um mich herum, höre nur noch die Musik und den Rhythmus. Das Blut pulsiert, Konzentration total.“ Worte wie aus einem Erlebnisbericht vom Körpererfahrungswochenende, dem letzten Selbsterfahrungsworkshop im Hier und Jetzt oder der Tanztherapie.

Weit gefehlt: Der Urheber dieser Sätze steht meistens mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Wenn er nicht gerade fliegt. Und das tut er in letzter Zeit ebenso begeistert wie erfolgreich. Ralf Sonn, Medizinstudent und Hochspringer, vor einer Woche Deutscher Hallenmeister geworden, war beim 11. Internationalen Musikspringen in Berlin der Überflieger. In der dörflichen, etwas muffigen Atmosphäre der kleinen Schöneberger Sporthalle fühlte sich der 23jährige Amateur aus Weinheim sichtlich wohl.

Nirgendwo sonst gibt es eine vergleichbare Stimmung, nirgendwo können sich Springer so sehr ausleben, nirgendwo werden sie mehr gefeiert. Die Nähe zum Publikum und vor allem die Musik macht aus den unnahbaren Matadoren der Sportarenen plötzlich hüftschwingende, lockere Menschen zum Anfassen. Damit dieser Zustand erreicht wird, darf jeder Akteur sein Lieblingslied auswählen, nach dem er springen möchte. Ob sich letzten Endes Rhytmus und Lautstärke direkt über die Gehörgänge ins Sprungbein fortpflanzen, ist bisher noch unbewiesen. Dennoch, bei so guten Leistungen so früh im Jahr: Kann Musik dopen? Falls ja, dann steht Lisa Stanfields „All around the world“ seit Freitag auf der Liste der Dopingfahnder ganz oben. Denn nicht nur Ralf Sonn zog sich an der Discoweise zum 2,36 Meter-Sieg hoch, auch Ulrike Meyfarths Nachfolgerin Heike Henkel puschte und berauschte sich damit auf einen neuen deutschen Hallenrekord: 2,01 Meter.

Phil Collins verhalf der rumänischen Junioren-Weltmeisterin Galina Astafei über 1,96 Meter und damit auf den zweiten Platz. Die Berlinerin Andrea Arens liebt es einen Zacken schärfer: Sie spannte sowohl die Zuschauer als auch die „Fine Young Canibals“ ein, um ihren Zwist mit der Latte („She drives me crazy“) zu bestreiten.

Belohnung für sie und das jeder Hitparade zum Ruhm gereichende, begeistert im Takt klatschende Publikum: Ebenfalls 1,96 Meter, damit neuer Berliner Hallenrekord und Platz drei. Insgesamt entpuppten sie die bundesdeutschen Hochspringer aber eher als musikalische Softies. Besonders der doch so männlich-harte Carlo Thränhard überraschte mit einer weinerlichen Liebesschnulze von Sennead o'Conner. Doch da half nichts: Auch auf die zärtliche Tour waren 2,24 Meter alles, was der deutsche Hallenrekordhalter (2,42) mit dem knappen Höschen und den daraus hervorzuckenden Muskeln zu bieten hatte. Mit ungläubigem Griff an sein versagendes Sprungbein verließ er, sich eine Träne aus den Augen wischend, die Manege. Peinlich war es ihm allemal, ließ er doch auf der vorangegangenen Pressekonferenz durchblicken, daß alle Höhen unter 2,37 unter seiner Würde wären.

Ein ähnliches Fiasko ereilte seinen Freund und Profikollegen: Dietmar Mögenburg, der vor einigen Tagen Vater wurde, zeigte sich von der Entbindung zu sehr geschwächt und scheiterte schon bei lächerlichen 2,20. Übellaunig vertauschte er seine nutzlosen Spikes mit riesigen Gesundheitssandalen und zog sich wortkarg ans kalte Buffet zurück

Mit Abstand die beste Show zogen der krummbucklige, dünnarmige Sowjetrusse Rudolf Powarnyzyn und Nick Saunders von den Bahamas ab. Der farbige Insulaner ertrug die Discomusik nur kurz, zog kurzerhand seinen Walkman aus der Tasche und rappte und swingte fortan in Eddy-Murphy-Manier sehr zur Erheiterung der Zuschauer wild im Innenraum umher, bis er bei seinem eigenen Versuch seine verwunderten Kollegen mit lauter, heißer Rap- und Funkmusik aufschreckte.

Ganz anders Rudolf Powarnyzyn: Mit seiner schlechten Körperhaltung, seinen zur Musik wackelnd Hüften, den wild gestikulierenden Ärmchen und seiner im unteren Teil blond gefärbten Löwenmähne eroberte er die Herzen des Publikums im Sturm. Mit Macht motivierte er seine Fans zu Klatschsalven, um dann bei geglückten Versuchen wie ein Feixteufel auf der Matte herumzuspringen. Den Rückweg legte er vorzugsweise tanzend und tänzelnd zurück, zog den faszinierten Fotographen Grimassen und erfreute die Betrachter solcherart, daß sein Ausscheiden nach übersprungenen 2,33 mit Trauer und stehenden Ovationen geahndet wurde.

Neben solchen Exoten wirkten die Stabhochspringer, mit Ravels „Bolero“ als Playback, geradezu farblos. Und das, obwohl Sergej Bubka, konkurrenzloser Weltrekordler, auf die Jagd eines ebensolchen ging. Nach lässig übersprungenen 5,80 ließ er zu sanften Chris-de-Bourgh-Klängen die Latte auf 6,04 hochbalancieren, einen Zentimeter höher als sein eigener Hallenrekord.

Dummerweise scheiterte er dreimal knapp an der Schwierigkeit, genau zwischen dem Spalt, der durch Latte und der nur 2,5 Meter höher gelegenen Decke gebildet wurde, hindurchzuspringen. Wenig Spaß am Sprungspektakel hatte einzig der Veranstalter OSC Berlin und Cheforganisator auch des ISTAF, Rudi Thiel. Nachdem sich schon im Vorfeld das Beschaffen von Sponsoren ungewohnt schwierig gestaltete, blieb die Turnhalle diesmal mit 1.200 Zuschauern nur zu zwei Dritteln ausverkauft. Statt dem erwarteten Reibach blieb außer dem Ruhm nur ein Defizit von 35.000 Mark.

Hochsprung, Frauen:1. Heike Henkel 2,01 m, 2. Galina Astafei (Rumänien) 1,96 m, 3. Andrea Arens 1,96 m, 4. Jelina Jelesina (UdSSR) 1,93 m, 5. Tamara Bykowa (UdSSR) 1,93 m, 6. Beate Holzapfel 1,90 m. Männer: 1. Ralf Sonn 2,36 m, Rudolf Powarnyzyn (UdSSR) 2,33 m, 3. Sergej Dymchenko (UdSSR) und Robert Ruffini (CSSR) 2,33 m, 5. Gerd Nagel 2,27 m, 7. Carlo Thränhardt 2,24 m, 10. Dietmar Mögenburg 2,20 m. Stabhochsprung: Sergej Bubka (UdSSR) 5,80 m, 2. Philippe d'Encausse (Frankreich) 5,60 m, 3. Wassili Bubka 5,80 m, 4. Helmar Schmidt 5,40 m.