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Deutsch-Deutsch ist eine neue, schwere Sprache

■ Manches Mißverständnis, viel Gelassenheit, aber kaum intellektuelles Elend beim ersten deutsch-deutschen SchriftstellerInnentreffen im Westberliner Literarischen Colloquium

Anna Jonas

Ich habe das Gefühl, hier sitzt eine Gruppe von Sinologen zusammen und versucht, über Differentialgleichungen zu diskutieren.“ Als Wolfgang Hegewald das sagte, hatten er und etwa vierzig Autorinnen und Autoren schon einen langen Abend, einen ganzen Tag (manche gar bis in die Nacht) und fast einen Vormittag miteinander diskutiert, gelegentlich gestritten und mitunter gelacht. Und es ging, selbstverständlich, um „deutsche Fragen“ bei diesem ersten deutsch-deutschen Treffen von SchriftstellerInnen nach dem 9. November, zu dem Friedrich Christian Delius, Uwe Kolbe und Hans-Joachim Schädlich in Walter Höllerers „Literarisches Colloquium“ am Berliner Wannssee geladen hatten.

Wohl erstmals ergab sich ein den meisten noch ungewohntes Zahlenverhältnis: eine Art Drittelparität von „Noch-DDR„-, „Ex-DDR„- und „Nie-DDR„-AutorInnen - eine Unterscheidung, die biographisch und schon deshalb im jeweiligen Werk fortwirken und zu finden sein wird, wie sich zeigte, selbst wenn über kurz oder länger die so definierten Grenzen verschwinden. Doch blieben die SchriftstellerInnen weder national noch berufsständisch nur unter sich. Mit dabei waren die tschechische, deutsch schreibende Autorin Libuse Monikova, der polnische Autor Jacek Bochenski, ebenso Stephan Bickhardt von Demokratie Jetzt und Manfred Bierwisch von der Akademie der Wissenschaften (DDR).

Als Hegewald Sinologen und Mathematiker zu bannen und Konzentration auf Themen der eigenen Kompetenz („das Aufbieten von Erinnerung“) zu beschwören versuchte, widersprach ihm Johano Strasser (Berg/Bayern) ganz vehement. Diese Betonung der eigenen Inkompetenz sei doch „ein unsauberes Spiel“. Sicher gilt: Nationalsozialismus, Stalinismus, Totalitarismus, Nationalismus, Vergangenheit, Zukunft - das muß mehr sein als nur Begriffe, die SchriftstellerInnen angehen wie jede und jeden; dies und anderes ist immer auch Thema ihrer Literatur, immer auch Gegenstand deren jeweiliger Utopie.

Ist - und das war nur eine der vielen Fragen - nach dem Zusammenbruch der real existierenden Sozialismen nun auch das Ende der Utopien gekommen? „Status quo“ quasi für die nächsten hundert Jahre? Dieter Wellershoff (Köln) versteht Utopie als „Möglichkeit, die Angst vor der Zukunft durch ein möglichst einfaches Bild von Zukunft zu nehmen“. Und vor allem gebe es „keine geschriebene Utopie“, hatte Fran?ois Bondy schon bald gewarnt, „die nicht auch schrecklich“ sei, weshalb „die Ambivalenz jeder Utopie stets mitgedacht werden“ müsse. Womöglich sei aber nur ein Typus von Utopie gescheitert, und es könne ja außer der „Utopie der Gleichheit“ auch „Utopien der Freiheit“ oder „Utopien der Vielfalt“ geben. Falls ja, dann sollten diese jedoch nicht gleich wieder zu „Modellen“ gemacht werden. Bestehende Verhältnisse ließen sich auch ohne Utopien und ohne Ideologien kritisieren - das war nicht einhellig, aber doch weitgehend Konsens.

Die Bürgerrechte waren die ganz reale Utopie der DDR -Opposition in den vergangenen Jahren. „Und statt dessen“, erinnerte sich jetzt Uwe Kolbe, „hat die West-Linke immer nur gesagt, der Kapitalismus ist so beschissen.“

Angesichts der unübersehbaren Fakten zieht Michael Schneider (Frankfurt am Main) nicht ohne Wehmut Bilanz: „Verhängnisvoll“, sagt er, „war die Abkoppelung der russischen Revolution von den Errungenschaften der bürgerlichen Revolution“, und „der zweite historische Fehler bestand darin, die soziale Frage über die Verteilung der Produktionsmittel lösen zu wollen“ - man müsse nun wohl zurück bis 1917... Der Stalinismus habe in eine Sackgasse geführt, die zu verlassen zwar aussähe wie Rückschritt, was aber in Wahrheit doch Fortschritt bedeute. Und er meinte das ernst. Mein Platznachbar flüsterte: „Darauf antwortet man nicht mehr.“ Er meinte das auch ernst. Den angemessenen Kommentar dazu las Durs Grünbein (Dresden) am Tag danach: „Traurig, daß jeder wahre Humor so abgrundtief sozialistisch ist“ - so schrieb er's in den „Bericht“ über seine Verhaftung am 8. Oktober.

„Liebe Freunde aus der DDR, versucht es zu beschreiben, was alles ihr getrieben habt, wir müssen doch gelesen werden, schreibt Bücher!“ Mit dieser freundlichen Botschaft hatte der Pole Bochensky lächelnd ermuntert und damit Heiterkeit ausgelöst. „Ich glaubte an Marx, weil ich glaubte, daß Brecht an Marx glaubte“, hatte der Leipziger Autor (und Graphiker) Heinz Czechowski Anfang 1989 in einem Gedicht geschrieben. Jetzt am Wannsee sagte Czechowski: „Wenn die DDR überhaupt etwas einzubringen hat in die Zukunft, dann die Erinnerung.“ Denn noch im Oktober habe die DDR -Opposition keine Revolution im Sinn gehabt, sondern Reform. Das Volk, so habe sich dann gezeigt, wollte etwas anderes „als die protestierenden Intellektuellen vorgesehen hatten“. Darüber, fordert er, müßten „die Schriftsteller“ schreiben, „nicht die Politiker wie Egon Krenz“.

Stephan Bickhardt beschreibt ebenfalls diese beiden Phasen der Revolution: die „naive Phase“ zwischen dem 7. Oktober und dem 9.November, während der die Intellektuellen davon ausgehen konnten, daß „ihre Ideen im Volk inkorporiert waren“, und die „reale Phase“ danach, in der die Entfremdung begann. Genau dies präzise beschrieben zu haben, darin liege die Bedeutung, der Kern des (umstrittenen) Textes von Monika Maron über Das Elend der Intellektuellen, weshalb ihr inzwischen sogar „Denunziantentum“ vorgeworfen wurde. Das sieht Yaak Karsunke aber entschieden anders: „Wer einen Denunzianten kritisiert, wird nicht selber zum Denunzianten.“

Die von ihr kritisierten Autoren, sagte nun Monika Maron, hätten „auf ihre Art zur Herrschaft gehört“, womit sie nicht nur Privilegien meint, vielmehr auch die „Sympathiewelle der anderen“, die ihnen - hüben wie drüben - entgegenschlug. Nach zwei Tagen Disput, Reden und Widerreden kam der Augenblick einer noblen Geste: Einer bekannte, sich in seiner Polemik (gegen Maron) verrannt zu haben; es gebe wohl „Übersetzungsfehler“ (das war keine Ausrede!), die „Sprache der DDR“ sei tatsächlich (noch) „eine andere Sprache“.

Diese Feststellung bezog sich nicht nur auf die „Sklavensprache“ (jene kryptisierende Sprachgegenwelt zur Herrschaftssprache), deren Verschwinden man einmütig voraussagte. Die Veränderung findet schon jetzt und täglich in jeder und jedem statt. „Statt unproduktiv sage ich seit kurzem unförderlich“, so die Ostberliner Lyrikerin Elke Erb. Was gar nicht zur Sprache kam: Es wäre ja denkbar, daß „das Volk“, das nun so lautstark sich äußert in „Fußballplatzsprache“ oder in jenem, uns eher unangenehm berührenden, von uns fast vergessenen Jargon der frühen 50er BRD-Jahre, daß „das Volk“ sich nur deshalb dorthin vergreift, weil es die (SED-) Herrschaftssprache nicht länger sprechen will und (noch) keine andere hat.

Sprach-Lehren aus diesen Tagen: In der DDR hat eine Minderheit im Namen einer Ideologie eine Mehrheit beherrscht; in der Bundesrepublik fühlt eine (intellektuelle) Minderheit sich von einer Mehrheit im Namen der Ökonomie beherrscht; in der DDR hat sich schließlich eine Minderheit mit der Mehrheit gegen die Minderheit gewendet (Maron). In der DDR sei übrigens „die Linke“ noch kein Begriff (Kolbe), im Westen sei sie zerfallen (Lothar Baier). Woraufhin Karsunke frohlockte, dank Baier könne er sich nun „ein linkes Individuum“ nennen; im übrigen wünsche er sich eine ganz normale Demokratie, die sei zwar nicht ideal, er aber sei dankbar „für diese Normalität“. Und aufpassen auch auf die beste Demokratie, das müsse man ohnehin, versicherte Delius.

Demokratie werde ohnehin in Deutschland, beklagte Hans Christoph Buch, noch immer wie „in einer ideologisierten Gesellschaft des 19. Jahrhunderts als Kampf zwischen Rechts und Links aufgefaßt“. Und Hannes Schwenger glaubte, nicht zu Unrecht, in diesem Links-rechts-Schema alte Überheblichkeiten wiederzuerkennen, wonach Demokratie nur bei der Linken existiere; in den neuen Diskurs aber müßten „alle legitimierten Demokraten“, also auch Konservative einbezogen werden.

Gab es in den letzten Monaten zu viel deutsch-deutsche Nabelschau und zu wenig europäisches Denken, wie Libuse Monikova moniert? Dazu Peter Schneider (West-Berlin): „Europa muß man im eigenen Land üben„; wie die Deutschen mit den hier lebenden Ausländern umgehen, daran werde sich zeigen, ob sie und Europa die deutsche Vereinigung verkraften. Prompt wurde daraufhin die (anwesende) DDR -Autorin Helga Königsdorf von einem Kollegen zitiert: Vor einem Jahr habe sie in Paris gesagt, Europa, das klinge jetzt „wie eine Nation“, und das sei ihr „zu eng“. „Wann, wenn nicht jetzt“, fragt Ulrich Schacht in die Runde, „sollten die Deutschen wohl zu sich selbst kommen, um eben nicht gegen andere zu ziehen, um eine ganz normale Demokratie zu werden?“ Dieser Logik mochte nun auch Libuse Monikova sich nicht entziehen: „Das ist wahr“, sagt sie, „und die Tschechen beneiden die Bundesrepublik nicht um die DDR.“

Immer wieder hatte sich die junge Erfurter Autorin Gabriele Kachold völlig quer zu diesem herrschaftlichen Diskurs gelegt. Jetzt sagte sie: bald würden sowieso viele Monumente fallen, dazu gehöre auch das lineare Denken, und kommen müßten „ganz neue Raumvisionen“, ein „relativitätstheoretisches Denken und Schreiben“ sei nun erforderlich. Ganz so weit hatte Jürgen Fuchs den gedanklichen Bogen nicht gespannt, er hatte das so formuliert: „Ich fühle mich am Tisch umstellt von Politik“, und er hatte darin „einen Feind der Poesie“ gesehen. Die Polen hätten Eigenständigkeit bewiesen, die DDR „neige schon wieder zum Anlehnen“. Experimente seien nötig und vor allem das eigene kritische Denken. Widerstand sei nun mal der Beitrag der Literatur, deshalb sei jetzt auch die Position von Günter Grass so wichtig, denn er leiste Widerstand.

Ungefähr in diese Richtung waren wohl auch die Gedanken von Hans-Joachim Schädlich gegangen, der im allmählichen „Verlust des Gegenstands“ nun die „Chance der Emanzipation vom deutsch-deutschen Politikum“ aufschimmern sehen konnte und darin die „Chance der Utopie der Fiktion“. Die „Rückkehr zur Utopie des weißen Blattes Papier“ erhoffte er für sich und die anderen, um endlich „ein normaler Schriftsteller unter fiktionalen Bedingungen sein“ zu können. So gesehen müßte Adolf Endler (Leipzig) nicht mehr „Schmarolle“ sagen, wenn er - nehmen wir mal an - SED-Staat meint. So gesehen, könnte er „Schmarolle“ sagen, wozu er, wann er, einfach weil er es will.

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