piwik no script img

D'YOU FEEL SEXY DDR?

■ Marius Müller Westernhagen in der Werner-Seelenbinder-Halle

Was haben die sich für einen Stoizismus antrainiert in all den Jahren. Dürfen tut man gar nichts, aber jeder hält sich dran. Zumindest auf den ersten Blick. In den Gängen gibt es Brause, Cola, Bouletten, Bockwurst, Weißbrot und Senf. Kein Bier. Denn auf der Rückseite der Eintrittskarte steht unter Punkt 3 der „Vertragsbedingungen“: „In angetrunkenem Zustand erfolgt kein Einlaß.“ Auch das Schlangestehen wird klaglos und mit Haltung ertragen. Mordsandrang, aber alle reihen sich ordentlich ein. Schon vor 20 Uhr ist es brütend heiß und eng, aber friedlich. Doch wehe, jemand zündet sich eine Zigarette an. Der kollektive böse Blick tötet das asoziale Objekt augenblicklich, und die Zigarette hält nicht länger als einen Zug. Links neben mir drei, die sich über ihren letzen Kudammbesuch unterhalten: „Da saßen wir dann in so 'ner Kneipe mit lauter Kanacken. Und Kanacken kann ick ja nun ja nich...“ Rechts von mir: „Geh'n wir anschließend noch 'n Bier trinken?“ „Klar, wo denn?“ „Na, wo gibt!“ Wo gibt, ich auch, unbedingt.

Kurz vor acht ein lautes Murren: „Marius komm endlich!“ Da wird es auch schon dunkel, eine kurze Hallelujah-Jubilier -Händel-Ouvertüre, dann geht der blaue Vorhang auf und nach den ersten drei Takten klatschen alle begeistert mit. Ein nichtssagendes Stampflied löst das nächste ab, aber ich bin hier umringt von Fans, die jede Zeile mitsingen können; jede Bewegung wird registiert und mit Sonderbeifall honoriert. MMW läßt Jackett und Weste fallen und knöpft das Hemd bis zur Mitte auf. Hinten links auf der Bühne stehen drei Gogo -Bläser-Boys, die sind am hübschesten anzuschauen, scheinen auch selber viel Spaß zu haben und nehmen sich nicht so ernst. Schlagzeug, Keyboard, die Gitarren: eine gute Standardband. Zur Halbzeit die unvermeidliche Ansprache ans Publikum: „Ich will euch seh'n, kann man da was machen?“ Licht bleibt aus, aber Spot auf's Volk geht an. Begeisterungsstürme und frenetisches Füßegetrampel. MMW freut sich. Natürlich entblödet er sich und fordert die Habt -ihr-den-totalen-Spaß? - Yeah-Yeah-Bestätigung.

Dann ein Lied von der neuen Platte: „Ich liebe dich, für immer und mehr. Ich brauch‘ dich, brauche dich so sehr. Ich hab‘ Sehnsucht, verzehr‘ mich nach dir.“ Das ist zum ersten Mal was Schönes. Und steigert sich. In einem der nächsten Lieder heißt es: „Ich lieb‘ dich. Liebe dich so sehr. Ach, lieb‘ mich doch.“ Wer sich so selbstentäußert, kann nicht ganz schlecht sein. Da vergißt man gerne seine mißlungenen Bluesadaptionen, wo er rockröhrig sabbert und kehlig Mitleid heischt, so angestrengt gepreßt kommt es da rausgeschmettert. Dann geschieht etwas Seltsames. Unmerklich zunächst verändert sich die Musik, zu sehr ist man schon auf ineinanderfließendes breiiges Getön eingestellt, um noch sensibel zu sein für winzige Tonnuancen, aber da schwimmen am Bühnenfirmament plötzlich wilde Farbmuster vorbei, die Gitarren sirren und fiepen schrill, und Marius Müll schlägt in sprödem, trockenem Sprechgesang ganz andere Töne an. Trotzige Rechtfertigungen und verbitterte Schlußfolgerungen: „Ich habe mir nichts vorzuwerfen, ich habe mir gar nichts vorzuwerfen.“ Das Lied mündet in verfremdete „I can't get no satisfaction„- und „Riders in the storm„-Versionen und hört vage und abrupt auf. Die Leute wissen nicht so recht. Da interveniert der neoexistentialistische Trompeterschmächtling: „Do you feel sexy? Does East-Berlin feel sexy?“ Sollen wir uns jetzt alle ausziehen und die Bühne mit pitschnaß geschwitzter Unterwäsche bewerfen? Aber es ist nur eine Ansage: „Sexy, du kannst alles von mir haben.“

Nach tapferen zwei Stunden ist Schluß. Als Zugabe gibt es dieses Schweinelied über Dicke. Neben mir stehen zwei. Zwei plumpe große Mädchen mit traurigen Gesichtern. Das ganze Lied über stehen sie still, den Blick starr nach vorne gerichtet, sie schauen sich auch gegenseitig nicht an. Aber als es dann endlich vorbei ist, applaudieren sie.

Katrin Schings

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen