Senatspolitik auf statistischen Sand gebaut

■ Geheimes Minderheiten-Gutachten belegt: Bevölkerungsprognosen sparpolitisch „schlechtgefärbt“

Der Senat ist bei seinen Entscheidungen jahrelang von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen. Was die versammelte Opposition in der letzten Bürgerschaftssitzung am Beispiel der Schülerzahlen bereits exemplarisch vermutete, kann nach der taz vorliegenden Informationen als allgemeingültige Gewißheit gelten: Die sogenannte „langfristige Globalplanung“, mit der der Senat sich 1985/86 auf das kommende Jahrzehnt, auf neugeborene, zu-, ab- und ausgewanderte Bremer erstellen wollte, waren ein Schuß in den Ofen.

Genau das hätte der Senat schon 1986 wissen können, also bevor er mit den inzwischen als falsch erwiesenen Zahlen Wohnungsbauprogramme stoppte, Schulen schloß und unter der Überschrift „Bilanz der Aufgabenkritik“ ein 350 Seiten langes Sparkonzept absegnete.

Schon in der achtköpfigen Planungsgruppe unter Leitung von Bremens oberstem Statistiker, Volker Hannemann, waren die für 1995 prognostizierten Zahlen so umstritten, daß einer der beteiligten Planer unter der Überschrift „Minderheitenvotum“ auf 25 Seiten seine Kritik so zusammenfaßte: „Unwissenschaftliche Verfahren“, „Nähe zur Willkür“, „schwerwiegende Mängel“. Das gesamte Vorgehen ähnele dem eines „Autofahrers, dessen Windschutzscheibe total verdreckt ist, und der die Straße nur im Rückspiegel sehen kann, von wo er dann auf die vor ihm liegende Straßenführung schließt.“ Konkret: Die Arbeitsgruppe habe lediglich „negative Trends der vergangenen 7 bis 10 Jahre“ fort

geschrieben.

Detailliert rechnet das Minderheitenvotum u.a. vor, daß es 1995 laut offizieller Prognose in Bremen z.B. keinen einzigen männlichen Ausländer mehr im Alter zwischen 45 und 55 geben dürfe. Auch bei der Vorhersage der Geburtenrate nahmen die Mehrheitsplaner kurzerhand an, daß sich der in den 80ern stark rückläufige Trend auch in den 90ern fortsetzen werde. Kritik des Minderheitenvotums: „Kein Trend setzt sich endlos fort, und unter die Null-Linie kann dieser Wert nicht fallen, dem sich die Prognosemethode schnell nähert.“

Bei der Hochrechnung der Bremer Bevölkerungszahlen kommt das Minderheitenvotum denn auch zu völlig anderen Ergebnissen als die veröffentlichte Prognose. Für das Stichjahr 1995 errechnet es - unter Berücksichtigung von Geburtenrate, Zuzug aus und Wegzug ins Bremer Umland, Ausländer-und Übersiedlerwanderung - exakt 29.000 BremerInnen mehr als das Mehrheitsgutachten und liegt mit 530.000 BremerInnen deutlich näher an den heute realen Zahlen: Wenn man berücksichtigt, daß von der Aussiedlerwelle und 11.000 erst bei der Volkszählung „entdeckten“ BremerInnen auch der Minderheiten-Gutachter noch nichts ahnen konnte: ein Volltreffer.

Statt gemeinsam noch einmal nachzurechnen, landete das Papier, mit dem die angestrebten Sparkonzepte kaum zu begründen gewesen wären, jedoch im „Giftschrank“. In den Abschlußbericht schrieben die Mehrheitsplaner stattdesssen auf Vorschlag

des heutigen Senatsdirektors Frank Haller: „Alternative Ansätze und Methoden führen zu keinen anderen wesentlichen Ergebnissen und bestätigen damit die Vorgehensweise der Arbeitsgruppe.“ - Eine - bei Abweichungen von 120 Prozent, bezogen auf die Prognoseergeebnisse - kühne Behauptung, die das Minderheitengutachten damals so erklärte: „Die abweichende Meinung wird nicht vorgetragen, weil die Ergebnisse ... vielleicht dem einen oder anderen politisch nicht in den Kram passen.“

Heute wollen sich einige der damaligs Beteiligten, unter ihnen der heutige Chefplaner der Senatskanzlei, Gerd Markus, nicht einmal an die Existenz eines Minderheitengutachtens erinnern. Für andere, darunter den Chef des Statistischen Landesamts, Volker Hannemann, handelt es sich bestenfalls um das berühmte Korn des blinden Huhns. Hannemann: „Selbst wenn die heutigen Ist-Zahlen dem Minderheiten-Gutachten Recht geben - mit staatistisch seriösen Methoden waren sie seinerzeit nicht vorauszuse

hen.“

K.S.