: Mompers Friedenspolitik
Zur Auslieferung des Totalverweigerers Scherer ■ K O M M E N T A R
Freie Wahl schon weit vor der „Freiheitswahl“ haben in der postsozialistischen DDR zumindest junge Männer. Seit Anfang Februar ist ein Zivildienstgesetz in Kraft, das ihnen ohne jegliche Gewissensprüfung die freie Entscheidung zwischen Zivil- und Wehrdienst läßt. Die Ablehnung von beidem, die Totalverweigerung, wird statt mit Freiheitsstrafe nur noch mit Ordnungsgeldern zwischen 10 und 1.000 Mark belegt. Selbst die allgemeine Wehrpflicht scheint nach den Vorschlägen des DDR-Verteidigungsministers für eine 70.000 -Mann-Berufsarmee zur Disposition zu stehen.
West-Berlin, die Stadt, die mitten in diesem abrüstenden zweiten Deutschland liegt, war wegen seines entmilitarisierten Status einst Fluchtpunkt der Wehrdienstverweigerer. Bis Walter Momper und der rot-grüne Senat beschlossen, Totalverweigerer generell an westdeutsche Behörden auszuliefern. Statt den juristischen Spielraum der alliierten Bestimmungen friedenspolitisch zu nutzen, ließ sich der Senat, der sich sonst gern friedensliebend gibt, für die gewünschte Auslieferungspraxis von den Schutzmächten das Plazet geben. Allerdings ohne diese vollständig zu informieren. Jetzt wird ausgeliefert, schließlich ist das keine Amtshilfe in Wehrstrafsachen, sondern ein „neutraler“ Verwaltungsakt, eben genauso „wie bei Dieben und Mördern“ (O -Ton Innenstaatssekretär Borrmann). Der gestern verhaftete und ausgeflogene Scherer war nur der öffentlich penetranteste Totalverweigerer, aber durchaus kein Einzelfall. Allein in den nächsten Wochen stehen fünf weitere Fälle an. Und so wird es weitergehen, bis dann endlich im kommenden Bundesland Brandenburg die neudeutsche Wehrpflicht eingeführt wird. Ein neutraler Verwaltungsakt.
Hans-Hermann Kotte
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