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Maleuda:„Wir haben viel dazugelernt“

■ Die Volkskammer, das letzte nicht demokratisch gewählte Parlament der DDR erlebte seit der friedlichen Revolution eine Scheinblüte / Das Arbeitstempo war atemberaubend

Berlin (dpa) - Als alles zu Ende war, standen manchem Volkskammerabgeordneten Tränen in den Augen. Bewegt schickte Parlamentspräsident Günther Maleuda die 500 Abgeordneten nach Hause. Seit der dramatischen politischen Wende vom Herbst vergangenen Jahres hatte die demokratisch nie legitimierte Volkskammer noch eine kurze Scheinblüte erlebt.

Das Parlament legte ein Tempo vor, das selbst einem altgedienten Bonner Parlamentarier den Atem verschlagen mußte. In kürzester Zeit wurden Gesetze eingebracht, beraten, verabschiedet. Dabei versuchte die Volkskammer mit einer Reihe von wichtigen Gesetzen, soziale Errungenschaften der DDR für ein vereinigtes Deutschland fortzuschreiben. Vor allem das Gewerkschaftsgesetz, das die Aussperrung verbietet, brachte den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sogleich in Rage.

Bei den ungewohnten Gehversuchen auf dem demokratischen Parkett hatten sich die 40 Jahre lang von der SED am Gängelband geführten Abgeordneten in den vergangenen Wochen noch häufig in bislang unbekannten parlamentarischen Regeln und Abstimmungsabläufen verheddert. „Wir haben viel dazugelernt“, sagte Volkskammerpräsident Günther Maleuda zum Schluß einer historischen Epoche. Innerhalb weniger Tage sei aus einem Abstimmungsparlament eine arbeitende Körperschaft geworden.

Das Auszählen von Abstimmungsergebnissen sei ungewohnt gewesen, bekannte Maleuda offen, der erst vor wenigen Monaten den Präsidentensessel von dem geschaßten Horst Sindermann übernommen hatte. Vorgänger Sindermann, der zur SED-Führungsspitze gehörte, hatte bereits bei der ersten wirklichen Abstimmung in der Volkskammer Schwierigkeiten gehabt, die Gegenstimmen richtig zusammenzuzählen.

In der kurzen Zeit ihres parlamentarischen Aufblühens erlebte die Volkskammer eine Reihe denkwürdiger Veranstaltungen. Von ihrer Tribüne wurden die Machenschaften der alten Staatsführung bloßgelegt. Der einst gefürchtete Stasi-Minister Erich Mielke bekannte in einem Anflug von Realsatire: „Ich liebe euch doch alle.“ Und die von der SED bestimmte Volkskammer raffte sich dazu auf, den Führungsanspruch eben dieser Partei aus der Verfassung zu streichen.

Nach der Verfassung der DDR war die Volkskammer das oberste staatliche Organ. In Wirklichkeit war die Volkskammer aber nur ein Scheinparlament, das nichts entschied und nur gelegentlich zusammentrat, um den von der Partei- und Staatsspitze vorgegebenen Beschlüssen ein Mäntelchen der Legitimation umzuhängen. Rein formal war die einst allmächtige SED in der Volkskammer in der Minderheit, aber über die im Parlament vertretenen Massenorganisationen FDGB, FDJ, Frauen- und Kulturbund sowie der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe verfügte die Staatspartei über eine satte Mehrheit. Und die sogenannten Blockparteien CDU, LDPD, NDPD und Bauerpartei blieben immer im Kielwasser der SED. Nur einmal in den siebziger Jahren regte sich bei der Abstimmung über das Abtreibungsgesetz zaghafter Widerstand gegen die vorgegebene Linie.

Bei den Wahlen gab es bisher nichts zu wählen. Die Vertreter des Arbeiter- und Bauernstaates waren schon auf einer Einheitsliste vorsortiert. Vor gut dreieinhalb Jahren verzeichnete das amtliche Wahlergebnis noch 99,94 Prozent für die Kandidaten der Nationalen Front.

Norbert Klaschka

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