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„...ein solches reines Exemplar innerlicher und äußerlicher Prosa“

■ Arsenij Gulyga: „Schelling. Leben und Werk“

Wie sieht es aus, wenn ein Philosoph auf Brautschau geht? Zuerst wird er, sagen wir, durch urteilsfähige Verwandte und Bekannte Erkundigungen über die Dame einziehen, die da auf dem Prüfstand steht. Neben Geist und Moralität wird ihn dabei vor allem der Gesundheitszustand interessieren und dabei keineswegs bloß der momentane, sondern die „allgemeine Konstitution“. Auf halber Strecke zwischen den Wohnorten wird er sodann einen Lokaltermin verabreden, der jedoch, unzeitigen Klatschereien ebenso wie vorschnellem Enthusiasmus vorzubeugen, keinesfalls in der Zweisamkeit stattfinden darf, vielmehr unter mütterlichem und geschwisterlichem Geleitschutz einerseits, ärztlicher Assistenz andererseits. Und fällt auch die medizinische Diagnose vor Ort so aus, daß statt „weiblicher Kränklichkeiten“ „gesunde Säfte“, „gute Farbe“ und, nebst der obligatorischen Befähigung zu einer guten Haushaltsführung, eine unerschütterliche Heiterkeit zu testieren ist, dann, ja dann steht nichts mehr im Wege, zur heiratenden Tat mit dem „holdseligsten Engel“ zu schreiten.

Man sieht: Der Philosoph, wie spekulativ, mystisch oder mythologisch er sonst auch gestimmt sein mag, setzt in Ehedingen auf die reine Erfahrung; die Wege der intellektuellen Anschauung, der Intuition, gar der Wirkung in die Ferne oder der magnetischen Sympathie gelten ihm hier nichts. Zwar erweitert er die eigene Empirie um den Konsensus der anderen, der Spezialisten zumal; unter keinen Umständen aber wird er die Katze im Sack kaufen.

Eine drastische Geschichte; eine aufschlußreiche Geschichte: die von Schellings Heirat mit seiner zweiten Frau Pauline Gotter. Sein Biograph Arsenij Gulyga indessen erzählt sie so lakonisch und trocken, daß man ihren makabren Witz und ihren philosophischen Informationswert schon sehr zwischen den Zeilen suchen muß.

Das mag der Pietät gegenüber dem Philosophen zu danken sein, der dem jähen Tod seiner geliebten ersten Frau (der ebenso berühmten wie bei ihren GegnerInnen als „Madame Luzifer“ berüchtigten Caroline Michaelis-Böhmer-Schlegel -Schelling) gewiß genügend mildernde Umstände bei seiner Braut- und Fleischbeschau hatte; es ist aber insgesamt symptomatisch für eine Biographie, die allen ihren Meriten zum Trotz insgesamt zu blaß bleibt, um ihre LeserInnen in größere Spannungsgrade zu versetzen. Gemessen an den großen Erwartungen, die an Gulyga als den Verfasser einer mit Recht gerühmten Kant-Biographie haben durfte, ist das Werk eher etwas enttäuschend zu nennen.

Schelling, dieser Proteus der deutschen Philosophie, dessen kaum faßbares Wesen schon Goethe im zweiten Teil des Faust karikiert hat („der alte Fabler“), ist zweifellos auch eine ihrer umstrittensten Figuren. Maßlose Verehrung und ebenso maßlose Verwerfung haben ihm gegolten: Stets blieb er für die Rezeptionsgeschichte eine ambivalente Erscheinung. Man konnte seinen abgründigen Tiefsinn auf der Suche nach dem „Sinn von Seyn“, dem Grund, Ur- und Ungrund aller Gründe bewundern - man konnte auch die „Metaphysik des absoluten Unsinns“ mit ihrem virtuosen salto transcendentale ins Unbedingte und Unendliche glossieren. Karl Jaspers hat nicht umsonst von Schellings „Größe und Verhängnis“ gesprochen.

Solch ambivalente Reaktion hatte natürlich ihre Gründe in Person und Sache. Der „Proteus“ Schelling hätte ob seiner stupenden Anpassungsfähigkeit an wechselnde Umstände auch als Chamäleon ausgerufen werden können. Zwischen Revolution und Restauration, Orthodoxiekritik und neu-alter Mythologie oszellierte seine Erscheinung allemal. Seine spezifische Form der Identitätsphilosophie ließ und läßt sich sowohl realistisch-naturphilosophisch wie strikt transzendental -idealistisch akzentuieren. Seine bunt gemischt zeitgenössische Zuhörerschaft, die von staatstragenden Pietisten bis zu Engels und Bakunin, Feuerbach und Kierkegaard reichte, war gerade so ein höchst adäquates Publikum. Und wenn in unserer Epoche Jürgen Haberms, der bemerkenswerterweise mit einer Arbeit über Schelling promovierte, Ernst Bloch einen „marxistischen Schelling“ genannt hat, dann ließe sich diese treffende Formel auch umgekehrt wenden: Schelling - eine Art von transzendental -idealistischem Bloch.

Die Wendungen und Windungen dieses Denkerlebens, seine immensen, nicht bloß philosophischen Spannungen werden von Gulyga keineswegs geglättet oder harmonisiert. Die Vorgeschichte der „wahlverwandtschaftlich“ inspirierenden Ehe mit Caroline; die Auseinandersetzung mit Friedrich, das Arrangement mit August Wilhelm Schlegel; der Tod von Auguste, der Tochter Carolines, der Schelling den Vorwurf einbringt, der Herr Naturphilosoph habe seine Stieftochter erfolgreich kaputt kuriert; die Erschütterung bei dem plötzlichen Ende von Caroline selber; schließlich die Tragödie des Sich-selbst-Überlebens: Das alles erhält sein Gewicht. Es gewinnt aber nicht die Intensität, die es in einer lebendigeren, auch poetischeren Darstellung hätte gewinnen können. Was Schelling über Hegel sagt, gilt cum grano salis auch für diese Biographie: „Ein solches reines Exemplar innerlicher und äußerlicher Prosa.“ Auf etliche Selbstverständlichkeiten, Platitüden und Ungeschicklichkeiten hätte man gut und gerne verzichten können. Aus philosophischer Sicht wiederum hätte man sich doch die eine oder andere Neuigkeit gewünscht. Daran mangelt es fast völlig.

Gulygas ursprünglich für ein russisches Publikum geschriebenes und auch jetzt eher an ein deutsches Laienpublikum adressiertes Werk konzentriert sich - aus russischer Sicht ist das verständlich - auf die Spannung von Realismus und Idealismus in Schellings Identitätsphilosophie. Die Betonung seiner Naturphilosophie wird sicherlich alle irgendwie ökologisch interessierten LeserInnen erreichen können. Die bedeutende deutschsprachige Schelling-Auslegung von Jaspers und Heidegger, Schulz und Lauth, Sandkühler und Frank hat unterdessen bei Gulyga allzu wenig Spuren hinterlassen.

Odo Marquards aufregende Verknüpfung Schellings mit Freud, das ganze Jahrhundert der Entdeckungsgeschichte des Unbewußten bleibt ebenfalls außerhalb. Und auch in wichtigen Einzelfragen, die wahrhaftig spannend genug sind - der lange Zeit umstrittenen, inzwischen trotz Gulygas Revision doch wohl definitiv geklärten Autorschaft der Nachtwachen von Bonaventura etwa bringt Gulyga die Diskussion kaum weiter. Nur ganz gelegentlich wird er so prägnant, daß er bleibende Eindrücke vermitteln kann, so etwa, wenn er die Ruhesehnsucht des Proteus Schelling umschreibt oder schließlich bei dem Satz ankommt: „Seine Gedanken waren schneller als seine Worte.“ Dem großen Kant-Biographen hätte man sowohl etwas mehr Gedanken- wie Wort-Accelerando gewünscht.

Ludger Lütkehaus

Arsenij Gulyga, Schelling. Leben und Werk. Aus dem Russischen von Elke Kirsten. Deutsche Verlagsanstalt, 408 Seiten, 48 DM

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