: 'Individualität‘
■ Ein Gespräch mit dem Herausgeber
Sie ist 84 Seiten stark, erscheint vierteljährlich, kostet 15 DM, ist noch immer defizitär und existiert schon sieben Jahre. Ihr Gründer ist Taja Gut, geboren 1949 in Zürich. Im Nebenberuf hat er zusammen mit Freunden ein Antiquariat. Zur Redaktion gehören der Maler Andreas Chiquet und der Fotograf Hans Ulrich Adler. Sie alle arbeiten ohne Honorar, sozusagen unentgeltlich für 'Individualität‘. Ihren Autoren jedoch zahlen sie von Anfang an zumindest ein symbolisches Honorar von 20 DM pro Druckseite. Die Zeitschrift verdankt sich einer Begegnung und ist Treffpunkt zu immer neuen Begegnungen. Ihr Leserkreis ist nicht groß (1.400 Abonnenten). Die Öffentlichkeit hat sie bisher nicht zur Kenntnis genommen. Weshalb also sie vorstellen? Weil der Unmut angesichts der sozialen Zustände, der zu ihrer Gründung führte, noch immer - wenn auch gewandelt - andauert und immer weitere Kreise zieht. Und weil man unter ihren Beiträgern neben illustren Namen wie Andrej Sinjawskij, Tadeusz Rozewicz, Joseph Brodsky oder György Konrad immer wieder unbekannte Talente (wie zum Beispiel Jens Bjoerneboes Essays) findet. Doch zurück zum Anfang.
Im Mai 1980 brachen in Zürich die Jugendunruhen aus. Unmittelbarer Anlaß dazu war ein 60-Millionen-Kredit der Stadt für den Umbau des Opernhauses, während für das geplante Alternative Jugendzentrum kein Geld dazusein schien. Was die Züricher Öffentlichkeit „Krawalle“ nannte und unter den Jugendlichen einfach „die Bewegung“ hieß, eskalierte sehr bald zu Gewalt. Es gab Opfer. Danach wurde alles wieder still. Vom „Packeis-Syndrom“ sprach der Züricher Psychotherapeut Paul Parin: Es krachte, doch es schmolz nicht. Taja Gut war damals nur Beobachter, nicht aktiver Teilnehmer wie '68: „Ich hatte das Gefühl, daß die alten Paradigmen brachen. Die linken Ideologien trugen nicht mehr. Die Leute aus der Bewegung wollten wirklich etwas ganz Neues.“ Aber sie erreichten es nicht. „Ein großer Teil der Leute, die damals am Anfang sehr witzig und ohne Gewalt versuchten, eine Jugendkultur aufzubauen, sind in die Drogenszene hineingetrieben worden.“ Taja Gut nutzte die Gelegenheit eines Stipendiums und emigrierte aus der erdrückenden Stille seiner Stadt nach Oslo. Dort begegnete er Leuten, die eine Kulturzeitschrift herausgaben: unabhängig, antiideologisch und übernational. „Da kam mir spontan die Idee, so etwas müßte doch auch in Zürich möglich oder sogar nötig sein. Eben in diese Leere hinein.“
Zurückgekehrt nach Zürich gründete er 'Kaspar Hauser. Das Kind Europas‘, eine „Halbjahreszeitschrift für menschengemäße Kultur“. Die erste Nummer, selbst finanziert und selbst gesetzt, erschien 1982. Der Name 'Kaspar Hauser‘ stand als Symbol für den Einzelnen wie für Europas Schicksal überhaupt: Ein Mensch, der aus dem Dunkeln auftaucht, der nichts hat, worauf er sich stützen kann, als sein eigenes, langsam erwachendes Bewußtsein, der alles selber verstehen, nichts gutgläubig hinnehmen will und - der dabei bedroht ist. Gemeint ist nicht nur die globale atomare Bedrohung, sondern auch die des Einzelnen durch den Staat. „Es hat sicher auch mit dem zu tun, was hier bei den 80er-Unruhen zu beobachten war“, erklärt Taja Gut. „Wie schnell sogar ein demokratischer Staat seine Polizeigesetze außer Kraft setzen oder verletzen kann, ohne daß nachher irgendetwas passiert. Es ist möglich, Gesetze sehr schnell außer Kraft treten zu lassen, Menschenrechte zu verletzen. Und diese Erfahrung, die vielleicht harmlos ist im Vergleich zu dem, was in anderen Ländern geschieht, sensibilisiert für die Gefährdung des Einzelnen, der überall ausgeliefert ist, sei's den Vollzugsorganen oder irgendwelchen anonymen Machtträgern.“ Da er Ohnmacht jedoch für „kein besonders produktives Gefühl“ hält, setzte Taja Gut das Erlebnis der Machtlosigkeit in ein ganz bewußtes „Bekenntnis zur Machtlosigkeit“ um, so der Titel seines allerersten Artikels, einer Reflexion über Gewalt und Revolution.
Vier Jahre lang trug sich die Zeitschrift von Nummer zu Nummer durch Abonnenten, Spenden und Einzelverkauf. Doch schließlich entstand ein Defizit von 5.000 Franken. Die Kräfte der Herausgeber waren erschöpft. Sie wollten aufhören. Zuvor gab es aber noch eine Begegnung mit Johannes Mayer vom Stuttgarter Urachhaus Verlag. Er machte, als er von ihrer Situation erfuhr, spontan das Angebot, die Zeitschrift in sein Programm aufzunehmen. Und das, obwohl sie einen Verriß seines Kaspar-Hauser-Buches gebracht hatte! Seither wird dieselbe Idee unter dem neuen, etwas kühleren Namen 'Individualität. Eine europäische Vierteljahresschrift‘ weitergeführt.
Auf der Suche nach Gedanken, Haltungen und Gegenbildern zur Zeit, die es weiterzugeben lohnt, entstanden thematisch konzipierte Hefte. Der ersten Nummer „Individuum und Staat“ folgten „Der europäische Weg“, „Verzweiflung und Utopie“, „Wider die Trägheit des Herzens“, „Schweiz?“, „Revolution der Gesinnungen“, „Dissidenz“, „Poesie und Praxis“, „Dogmendämmerung“, „Verräter“, „Bedenkzeit“...
Aber, so Taja Gut, „im Grunde genommen ist es immer dasselbe Thema 'Individuum und Staat‘, nur immer aus einer etwas anderen Ecke beleuchtet“. Das umfaßt nicht nur Beiträge wie Terror im Strafvollzug oder Die Ausrufung des geistigen Notstands (1982), sondern auch Erfahrungen genossenschaftlichen Arbeitens oder etwa Die Untergründe des Sports. Daneben gibt es größere Gespräche mit Autoren, Filmemachern, Zeitzeugen und Übersetzungen vor allem aus dem skandinavischen und osteuropäischen Raum. „Aber vor allem sind es Essays“, betont der Herausgeber. „Und wenn möglich, künstlerische: Texte, die man nicht mit einem Mal ausgelesen hat. Das jedenfalls wäre unser Wunsch ... die ganze Zeitschrift lebt eigentlich von einem Suchen nach oder einer Sensibilität für Einzelgänger: Leute, die etwas ganz Persönliches zu sagen haben, und die auch spürbar sind in ihren Texten. Es ging immer um eine bestimmte Qualität, vielleicht eben wieder um den Begriff des Individuellen: Texte in denen ein Mensch spürbar wird, der seine Zeit gelebt und gelitten und eben auch in einer künstlerischen Form erfaßt hat.“
Die jüngsten Nummern enthalten allerdings auf den ersten Blick immer weniger sozialpolitisch engagierte Beiträge und immer häufiger Namen wie Nietzsche, Kafka, Celan... Ist die Zeitschrift nun in höhere literarische Sphären abgedriftet? Reagiert sie gar nicht mehr auf die Ereignisse vor Ort? „Wir haben eigentlich nie direkt reagiert“, erwidert Taja Gut. „Es gibt so viele Zeitschriften, die immer auf das Neueste reagieren. Und ich fühle mich eigentlich manipuliert von den Zeitungen, die mir jeden Tag auf den Frühstückstisch die Probleme legen, mit denen ich mich heute zu beschäftigen habe. Was wir immer versucht haben, ist, wirkliche Hintergrundanalysen zu geben. Und wir haben dabei oft zum Erstaunen vieler bis ins 19. Jahrhundert zurückgegriffen oder noch weiter, weil das, was heute Realität ist, im 19. Jahrhundert gedacht wurde. Wir haben, auch wenn die Titel der Texte harmlos klingen, immer versucht zu zeigen, wohin die ganze Gesellschaftsentwicklung läuft, wenn das so weitergeht, noch lange vor Tschernobyl. Wir haben versucht klarzumachen, daß es heute auch eine Erkenntnisfrage ist: Daß wir nicht länger wie Irre hinter den Ereignissen herlaufen und nur noch reagieren, sondern zu einem Punkt kommen, wo wir agieren, wo wir bei uns selber sind und das Notwendige zuerst einmal denken und dann tun können. Und das ist eigentlich das Grundanliegen dieser Zeitschrift: Sie will nicht Kommentare zum Geschehen liefern, sondern war ursprünglich als eine Art Notbibliothek geplant für Zeiten, in denen man es vielleicht brauchen könnte: Texte, die einen zu sich selber führen, die einem Mut geben, sich selber gewisse Gedanken zu machen. Was dann unwillkürlich dazu führt, daß man ein bißchen abseits tritt und die Dinge anders sieht, als einem vorgeschrieben wird.“
Um ein Stichwort aus der allerersten Selbstanzeige von 'Kaspar Hauser‘ aufzugreifen: Was ist die Zeitschrift, „Eisbrecher oder Don Quijote“? „Eher Don Quijote“, lacht Taja Gut.
Zürich hat sich seit den Jugendunruhen verändert. „Die Bewegung“ wurde buchstäblich zerschlagen. „Danach war Zürich nicht mehr dasselbe. Es ist eine modische Yuppie-Stadt geworden“, beschreibt Taja Gut, „mit viel Geld, viel Boutiquen und Spielsalons.“ Konsum und Kommerz auf der einen Seite, auf der anderen die gestiegene Zahl der Drogenabhängigen. „An einem Kiosk am Platzspitz hinterm Hauptbahnhof werden pro Tag allein 7.000 Spritzen ausgegeben.“
Marie Luise Bott
'Individualität‘ - Europäische Vierteljahresschrift, Verlag Urachhaus, Urachstraße 41, 7000 Stuttgart
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