ANSCHLUSS VERPASST

■ Billy Graham vor dem Reichstag

Es trat nicht ein, nur auf. Zu weit war der Ruf vorausgeeilt („Er kommt!“ - „Leben.“). Der eine (Gysi) kam gar nicht, der andere (Graham) blieb weit hinter seinen (erwarteten) Leistungen zurück, ebenso das Publikum: statt 100.000 1960 zählte 'dpa‘ genau etwa 10.000. Graham lag zwar gut im Takt, hatte einen (g)eifernden kleinen Pfarrer als fähige Übersetzungshilfe zur Seite (er ging zeitweise in Grahams Rhythmus derartig auf, daß er sich selbst verflüssigte), da gab es Minuten des totalen Gospels, dann, wenn die Sätze noch vor Ende der Strophe Refrains wurden. Denn Zack! kommt schon die Antwort, meistens „That's why Jesus came to us!“, so daß jede vorher aufgeworfene Problemstellung noch im Stadium der Exposition gewaltsam aufgelöst wird. Das erzeugt im günstigsten Fall den Drive erläuterungsloser Läuterung, den Beat der gleichen Abfolge identisch gebauter, aber nach dem System der Anbauschrankwand beliebig montierbarer Satzgruppen („The Bible says...“, „Once I was talking...“, „He asked me, I answered“, „That's why Jesus...“ usf.). Schwacher Abglanz früherer Großtaten. Der Funke, Wochen und Monate zuvor ein Feuer am Brandenburger Tor, sprang nicht über. Die Gelähmten standen nicht auf (ich beobachtete es), keine Evangelisierten durften öffentlich bekennen (wie es sogar die Heilsarmee bietet), viel zu wenig hielten ihre Antwortkarten zum Bekenntnis in die Luft, die Seelsorger, freikirchlich, kaufmännisch oder evangelisch, standen traurig und unangesprochen im Zelt. Es gab Ausnahmen. Ein junger, blonder Helfer aus Stuttgart hörte nie mehr auf zu lächeln, aber er war schon vorher evangelisiert. Wer baute wirklich, wie es die drei punkigen Schwestern Hella Heinzmann und Band unmittelbar vorher gefordert hatte, Jesus in sein „System“ ein?

Graham scheiterte am historischen Moment - hätte er ihn doch nie angesprochen! - (Gastgeberin Evangelische Allianz redete sich mit den zeitgleichen Wahlvorbereitungen in der DDR heraus), und verglich/-stieg sich gar mit dem Berliner Kennedy. Sinkt mit dem Stern des Kommunismus auch die Zahl konvertierbarer Gläubiger und steigt die der wöchentlichen Kirchgänger, die nie und nimmer dem Herrn ihr Eigenheim schenken? Der „Plan Gottes“ jedenfalls, flächendeckend eingeteilt in 28 Quadrate für Behinderte, Presse, Reservierte, A-, B-, C- und D-Gruppen plus Toiletten, Fundbüro, Melde- und Sammelstelle blieb unerfüllt, fast so leer wie der Mittelgang, der unsichtbaren Ekstatikern, die zum gelbtulpigen Podium stürmten, vorbehalten war.

Unbestätigten Agenturberichten zufolge war Ziel der Kundgebung, „daß nach dem Fall der innerdeutschen Mauer auch die Mauer zwischen Gott und den Menschen falle“ und daß Graham vor „Eigensucht, Sexismus und Materialismus“ gewarnt hätte. Abgesehen davon, daß Graham natürlich kein kämpferischer Feminist, sondern entschiedener Fleischverächter ist (obzwar, er zeugte einen Sohn), wird Grahams Botschaft schwer unter-, wenn nicht hintertrieben. Die diesmal offensichtlich nicht erfolgbringende Werbestrategie und den routinierten Umgang mit Großleinwand, Kränen und Lautsprechern, wie er jedem Rockgrößenwähner selbstverständlich ist, nicht eingerechnet, zeigte sich Graham auf der Höhe der Medientheorie. Beschrieb er doch in einfachen Worten das Phänomen der gleichzeitigen Erscheinung („Jesus ist hier bei Ihnen und zugleich bei mir in Südamerika“) und dürfte bei den orwellaufarbeitenden Ostlern offenen Ohren begegnet sein („God is watching you.“). Entsprechend ist die echte Evangelisation die elektronische Verkabelung (via Bildschirm) oder die postalische Vernetzung (via Antwortkarte) mit Jesus und seinen Verteilern. Die Antwortkarte - ankreuzbar, ob man „noch nicht Christ“ ist, schon „sein Leben Christus anvertraut hat“, „einmal Christ war“, aber „den Anschluß verloren hat“ - erfährt noch eine Steigerung durch den Gebetsvordruck, ein Entschuldigungsformular („Das was ich getan habe, tut mir leid.“) mit Datum und Unterschrift, zu richten an den „Lieben Herrn Jesus“. Diese und andere Sendungen sind enthalten in der unbedingt zu empfehlenden, vorm Reichstag kostenlos verteilten Broschüre „Wie kann ich Gott persönlich kennenlernen“, ein Kurzlehrgang in vier Schritten mit entschiedenen Piktogrammen und schematischen Grafiken, in der die Verschaltung zwischen „Mensch“ (sündig) und „Gott“ (heilig) durch ein raumgreifendes Kreuz anschaulich wird. Die Überzeugungskraft des Lehrstoffs basiert auf dem Prinzip des modernen Journalismus: Jeder Aussagesatz wird durch ein oder mehrere Gewährsmänner (Die Bibel, Jesus) deckungsgleich bewiesen und restlos belegt, die zentralen Stellen sind zwecks Wahrheitsfindung halbfett gedruckt, das Resultat der Recherche bestätigt die Glaubwürdigkeit der Informanten (Gottesbeweis).

Irgend ein logischer Rest bleibt dabei für gewöhnlich zurück, eine verschwiegene Komplikation im Schaltkreis, ein nicht zur Deckung gebrachtes Teil in den Gleichnissen. Zum Beispiel wartete ich bis zum Ende der Rede auf die Aufklärung, was mit der Ziege im Gleichnis mit den Schafen passierte. In Grahams Erzählung schaffte sich seine Familie drei Schafe an, um den Rasenmäher zu sparen. Als diese ausbrachen, mußten sie die Schafe hinter dem Hügel suchen. In der Zwischenzeit war immer wieder eine rote (?!) Ziege bei ihnen aufgetaucht, die sie immer wieder vertrieben, die Kinder bewarfen sie gar mit Steinen. Schließlich ließen sie die Ziege mit einem Laster hinter den Hügel transportieren und gingen in der Zwischenzeit einkaufen. Als sie wiederkamen, war die Ziege wieder da. Mit den Menschen, so Graham, wäre es wie mit den Schafen. Sie gingen verloren. Jesus gäbe keine Ruhe, bis er wieder alle gefunden hätte. Dann wechselte Graham das Thema und kam nicht mehr auf die Ziege zurück. Ist Jesus die rote Ziege???

Auch ein anderes Gleichnis warf Fragen auf. Einmal ging Graham mit seinem Sohn spazieren. Da traten sie versehentlich auf einen Ameisenhaufen und stellten fest, daß sie viele Ameisen getötet und verwundet und ihre Bauwerke beschädigt hatten. Das tat Grahams Sohn leid, er fragte: Wie können wir den Verwundeten helfen, wie können wir ihre Häuser reparieren? Da sagte Graham und wiederholte es vor dem Reichstag: Das geht nicht. Die Ameisen sind zu klein, wir müßten schon Ameisen werden, um ihnen zu helfen. Und Grahams Schluß war, ebenso ginge es Gott mit den Menschen, er hat seinen Sohn zur Ameise gemacht, damit er uns, diesen Ameisen im Vergleich zu Gott, helfen könnte. Ist Gott vorher versehentlich über uns getrampelt???

Dorothee Hackenberg

Insgesamt sieben vom Vorbereitungsbüro Billy Graham Berlin '90 organisierte Nachfolgeevangelisationen finden in den Bezirken statt, die erste am Freitag, 16.3., 19.30 Uhr in der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde, Tempelhofer Damm 133-137.