: Die Verlierer von Leipzig
■ Heute findet die letzte Montagsdemonstration statt / Was ist aus den Aktivisten der ersten Stunde geworden?
Vor einem halben Jahr begann die erste große Montagsdemonstration mit dem Ruf „Ihr könnt abdanken, jetzt sind wir dran“. Abgedankt hat die alte Partei- und Staatsmacht, und wer ist jetzt „dran“? Jedenfalls nicht die Vorkämpfer des Umbruchs. Sie sind dort geblieben, wo sie jahrelangang standen: in der Opposition, getrennt vom Volk. Aber die Leipziger Montage waren nie eine Bewegung der Oppositionsgruppen.
Es ist fast wie früher in der Nikolai-Kirche. Eine halbe Stunde vor Beginn der Einwohnerversammlung quetschen sich die Leute auf der Treppe zur Schulaula in der Schulze -Delitzsch-Straße. Im Saal kein einziger Stehplatz mehr. Während zur gleichen Zeit ein Pfarrer beim mäßig besuchten Montagsgebet westdeutschen Touristen und zwei Damen mit einem Stapel 'Bayernkurier‘ unterm Arm die Lokalgeschichte erläutert, wollen die Menschen aus der Leipziger Neustadt wissen, „wann wir endlich aus den Ruinen herauskommen“. Abriß und Neubau ihres nahezu komplett verfallenen Viertels verspricht der Staat seit 1979. „Erwarten Sie keine Termine von mir“, enttäuscht Chefarchitekt Dietmar Fischer. Seine Worte gehen fast unter im Gebrüll der Dreihundert.
Unter ihnen findet sich keiner der bekannten Vorkämpfer des Umbruchs in der DDR. Und das, obwohl in diesem Stadtteil etliche der Initiatoren der Montagsdemonstrationen wohnen. ***
Die alten Leipziger Aktivisten diskutieren lieber abendfüllend über die allgemeine Lage ihres Landes, selten über ihre Heimatstadt und noch seltener über sich selbst.
„Von Auto zu Auto“ sei er in den letzten Monaten gesprungen, erzählt Thomas Rudolf (27), in dessen Wohnung, unweit der Schulze-Delitzsch-Straße, der Strohstern auf dem weihnachtlichen Tannengesteck vor sich hin staubt. Zeitweise haben er und seine Freundin Katrin Walther (19) im Leipziger Westen, in den neuen Büroräumen der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM), geschlafen. „Das hat abends zulange gedauert, immer hierher in den Osten zu fahren“, erinnert sich Katrin, die seit dem Ende ihrer „Schreibtechniklehre“ vor drei Jahren „hauptamtlich Opposition macht“. Gegenwärtig regiert sie die Stadt mit, flitzt zwischen einem Ausschuß des Runden Tisches in Berlin, dem Runden Tisch des Bezirks, einer Projektgruppe Frauen der IFM und dem lokalen IFM-Büro hin und her. Von Termin zu Termin.
Das Fazit der redegewandten Frau: „Du warst Opposition und bleibst es. Du lernst, dich zu artikulieren und lernst viele Leute kennen.“ Aber offenbar nicht auf den eigenen Veranstaltungen. Der IFM-Einladung zu einer Diskussion über Arbeitnehmerrechte folgten vergangene Woche zwei Menschen: Ein Betriebsrat aus Oberhausen als Referent und eine West -Berliner Journalistin. Dafür hätten, erzählt Katrin, am Vorabend zehn Leute über ein ähnliches Thema bei einer IFM -Veranstaltung „ganz intensiv“ diskutiert.
Ihr Freund Thomas verabschiedet sich gerade aus der aktiven Politik, nach zwölf Jahren Engagement in Kirchengruppen und zuletzt als einer der Republiksprecher der IFM. Beim dritten Glas Tee entrutscht dem sich immer noch konspirativ gebenden Nickelbrillenträger eine Erklärung für seinen Rückzug: „Die geistige Bevormundung hatte mich am meisten gestört. Deshalb bin ich in die Gruppen gegangen. Sie ist ja nun weggefallen.“ Die Bürgerbewegungen handelten jetzt „konzeptionslos“, meint Thomas Rudolph. Er weiß, daß „Dilettanten“ das Heft in der Hand haben, die zentralistischen DDR-Strukturen auch trotz der Tisch -Demokratie funktionieren, während er selbst „schon immer für eine klare Linie“ war. Wie die allerdings jetzt aussehen könnte, das verrät der junge Mann nicht. Was er künftig machen will? „Na, zum Beispiel auf die Einwohnerversammlung in der Schulze-Delitzsch-Straße gehen.“ ***
Dort aber ist er an diesem Montag nicht zu entdecken. In der Aula kocht die Wut hoch. Eine kräftige Frau schreit den Chefarchitekten Fischer an: „Es gab schon 13 Baupläne für unser Wohngebiet, sonst habt ihr uns vor der Wahl wenigstens noch was versprochen, jetzt sagt gar keiner mehr was.“ Der Angegriffene rudert mit den Armen und jongliert mit Zahlen. „27.000 Haushalte in Leipzig haben keine eigene Wohnung und mehr als 30.000 leben in ähnlichen Verhältnissen wie Sie.“ Die „Verhältnisse“, das sind Taubenzecken, Schwamm und Einsturzgefahr. Es bringt die Versammlung fast zur Raserei, daß der Chefarchitekt außer einem alten Pappmachemodell und Sprüchen nichts mitgebracht hat. „Sie müssen keine Existenzangst haben oder befürchten, daß Ihre Lage rechtloser als früher wird“, beschwört Fischer die Mieter.
Aber sie haben Angst. Vor wenigen Tagen sind Vermessungstechniker einer Hannoveraner Firma im Viertel gesichtet worden. Fischer gibt sich ahnungslos: „Von staatlicher Seite ist nichts geplant.“ Doch niemand glaubt in Leipzig irgendjemand. Bisher war man davon ausgegangen, daß die Häuser zu sechzig Prozent „volkseigen“, mithin staatliches Eigentum sind. Das enthüllt nun der Rechtsanwalt des Stadtbauamtes auf der Einwohnerversammlung als Lüge: „Volkseigen ist an den Gebäuden oft nur ein Zwölftel, der Rest gehört Erben aus der DDR, BRD und dem europäischen Ausland. Jeder Eigentümer muß jeder Baumaßnahme zustimmen.“ Ungläubiges, verzweifeltes Staunen. „Warum hat man uns das jahrelang verschwiegen?“, flüstert eine junge Frau ihrer Nachbarin zu. Die schüttelt unablässig den Kopf. ***
Auf lähmende Ratlosigkeit und Furcht in der Bevölkerung reagieren die Initiatoren des Umbruchs gespalten. Der Mitbegründer des Neuen Forums, Jochen Läßig (28), in Leipzig und für das westdeutsche Fernsehpublikum wohl der bekannteste Montagsredner, läßt seinen Frust heraus: „Es ist schwer, hier noch optimistisch zu sein. Die Leute denken nur noch an Geld und die nackte Existenz.“ Der zwangsexmatrikulierte Theologiestudent ist selbst seit zwei Jahren ohne reguläres Einkommen und will das seinen Mitmenschen keineswegs verübeln. „Ich weiß ja selbst nicht, wie es für mich weitergehen soll.“ Sagt es und zupft an den Saiten einer Gitarre - „das gönne ich mir sonntags“. Vielleicht wird er nochmal studieren, vielleicht auch in die Kommunalpolitik gehen, um die er sich als Republik-Sprecher des Neuen Forums bislang nicht kümmern konnte. Folglich hat Läßig zur Zukunft seiner Heimatstadt nichts zu sagen. Die Perspektive für das Neue Forum kann er dagegen beschreiben, düster genug: „Wir kriegen ein Prozent bei der Wahl und danach ist das Neue Forum tot.“
„Jochen sieht das zu verbissen“, korrigiert ein Freund, Mitstreiter Michael Arnold (25), mit dessen Name die Unterzeichnerliste des landesweiten Gründungsaufrufes für das Neue Forum am 10. September 1989 begann. Er meint: „Es lohnt sich, die Arbeit fortzusetzen. Viele, denen es vor vier Wochen nicht schnell genug mit der Vereinigung gehen konnte, werden sich jetzt ihrer Angst bewußt, wollen das Tempo bremsen und fragen, was aus der DDR wird.“ Diese Bürger „wollen wir aktivieren“.
Weshalb niemand vom Neuen Forum bei der Neustädter Einwohnerversammlung war, kann Arnold nicht erklären und fügt leise hinzu: „Leipzig ist nicht in vierzehn Tagen hochzumauern.“ Er wird mit Frau und Kind im Sommer nach Dresden ziehen, um dort als Zahnarzt zu arbeiten. Nicht nur, aber auch aus diesem Grund ist das Projekt gescheitert, das sie gemeinsam mit den anderen Bewohnern ihres Hauses geplant hatten. Sie wollten das Gebäude der Kommune abkaufen und renovieren. „Plötzlich merkten einige, wieviel Arbeit wir hätten reinstecken müssen“. Arnold grinst in das mit Brotwein - dafür läßt man Brot und Zucker in Wasser vergären - gefüllte Glas, als habe er der Besucherin ein typisches Problem dieser Stadt erzählt. Rascher Themenwechsel. In Dresden werde er „selbstverständlich“ weiter den Landesverband Sachsen des Neuen Forums mit aufbauen, versichert sein Sprecher, „die Bürgerbewegungen müssen zusammenrücken, sowie innerhalb und außerhalb des Parlaments an Einfluß gewinnen“. Formeln, mit denen die die Kluft zwischen Opposition und Bevölkerung nicht zu schließen ist. Aber die Illusion, das zu schaffen, scheint Arnold genausowenig gehabt zu haben wie viele seiner Mitkämpfer. ***
Illusionen liegen auch den Neustädter BewohnerInnen fern. Als auf ihrer Versammlung der Philosoph Dr. Jürgen Roloff vorschlägt, „wir übernehmen das Eigentum an unseren Wohnungen und gründen jetzt einen Interessenverband der Mieter“, schallt es ihm entgegen: „Davon kriegen wir keine neue Wohnung.“ Der kleine Mann vorne gibt nicht auf. „Dann besetzen wir eben welche.“ Nee, das nicht, zu kühn und abwegig ist der Vorschlag für die müden Gesichter. Und ein Interessenverband der Mieter „erfordert ein Haus und eine Verwaltung, das schaffen Sie nicht“, warnt jemand, der sich als „letzter Ruineninsasse“ eines Mietshauses vorstellt. „Wir haben den Wohngebietsstützpunkt als Büroraum und ich geb meine Freizeit“, widersetzt sich der Philosoph der bleiernen Stimmung. Er habe einen Rechtsanwalt mitgebracht, der sich für die Neustädter einsetzen könne. Nur, der ist Anwalt des Stadtbauamtes und entschließt sich irgendwann, die bereits nach einer halben Stunde von dreihundert auf vierzig Menschen geschrumpfte Versammlung auf die nicht statthafte Interessenkollision hinzuweisen. „In der Vergangenheit verraten und in der Gegenwart verkauft“, kommentiert leise jene alte Frau, die nicht aufhört, den Kopf zu schütteln. Wer könnte diese Menschen „aktivieren“? ***
Wenn nicht die neuen Gruppen, dann möglicherweise die Parteien? Durchgängig Fehlanzeige. In deren Zentralen im Haus der Demokratie erfährt die Besucherin aber vor allem ungefragt parteiinternen Knatsch. Etwa über die „Null -Aktivitäten örtlicher Spitzenkandidaten“ oder daß der SPD -Schatzmeister zum Rhetorik-Kurs in der Bundesrepublik weilt, „wo der doch einen Mathematik-Kurs bitter nötig hätte“. Natürlich hat jeder Sozi mal montags die Bank in der Nikolai-Kirche gedrückt. Aber darin erschöpfte sich in der Regel das frühere Engagement der Montags-Gewinnler. Daß sie bis heute in ihren Reihen kaum einen der Aktivisten der ersten Stunde begrüßen können, schreibt ein Genosse freimütig „einer gewissen Rechtslastigkeit der Leipziger Partei zu“.
Trüge die PDS nicht das Kainsmal ihrer Vorgeschichte, wäre nicht gerade ein übles, gegen das Neue Forum gerichtete Strategiepapier des Ex-Bezirkssekretärs Wötzel vom 30.10.89 aufgetaucht - es entlarvt damalige offizielle Dialogangebote als pures taktisches Manöver -, hätte sie viele Sympathien in Leipzig. Die Partei traut sich kaum aus ihrem Bunker in der Karl-Liebknecht-Straße heraus und klebt die Plakate zum „Erhalt der sozialen Sicherheit“ besonders hoch. Pressesprecher Volker Külow (29) hat nichts erfahren von der Einwohnerversammlung in der Neustadt. Wie sollte er auch, darüber hat nicht mal die 'Leipziger Volkszeitung‘ ('LVZ‘) berichtet. Chefredakteur Dr. Wolfgang Tiedge (39), am 15. November 1989 vom Lehrstuhl für Journalismus an der Karl -Marx-Uni in den 'LVZ'-Chefsessel beordert, blickt - wie alle anderen, „nicht mehr durch, wer welche Initiative gründet und wer in Leipzig regiert“. Man habe nichts gewußt von der Einwohnerversammlung in der Neustadt. Tiedges Version wirkt glaubwürdig. Er fühlt sich wie jemand, „dem zehn Zentner Kohlen vors Haus geschüttet wurden. Da stützt man sich schon mal auf die Schippe und denkt über das Leben nach“. Ein gegenwärtig typisches Lebensgefühl in dieser Stadt, die in den vergangenen Jahren dem Maler Detlev Lieffertz „während der Messe ein kleines Gefühl von New York“ vermittelte. Davon ist in der 'LVZ‘ unmittelbar vor Beginn der Frühjahrsmesse 1990 kein Hauch zu spüren. Ein sturzlangweiliges, biederes Blatt. Lachend verteidigt sich PDS-Genosse Tiedge: „Die Zeiten sind auch bieder.“ Mitnichten. Doch diese Ansicht, nicht weit entfernt von den Einschätzungen der Forum-Mitglieder, stempelt sie alle zu Verlierern. Wer regiert Leipzig? Was wird aus der Stadt? Soweit Maler Lieffertz erfahren hat, wird über Leipzigs Zukunft in der Messestadt Hannover verhandelt. ***
Die alte, ewig kopfschüttelnde Frau aus der Neustadt verläßt die Einwohnerversammlung mit den Worten: „Ich kauf mir ein Vogelbauer. Darin kann es nicht schlimmer sein als hier bei uns.“
Petra Bornhöft
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