: Mit Litauen bröckelt das Sowjet-Imperium
Sowjetrepublik erklärt sich zur „Republik Litauen“ / Erstmals ein Nichtkommunist Sowjetvorsitzender / Mehrheit für die Unabhängigkeitserklärung zeichnet sich ab ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
In der Sowjetrepublik Litauen ist gestern erstmals ein Nichtkommunist zum Vorsitzenden des Obersten Sowjet gewählt worden. Genau 5 Jahre nach dem Machtantritt von Michail Gorbatschow wollte der Oberste Sowjet der Republik am gestrigen Sonntag die Unabhängigkeit des Staates Litauen von der Sowjetunion proklamieren. Die Abstimmung über diesen Tagesordnungspunkt hatte bei Redaktionsschluß noch nicht stattgefunden. Gleichzeitig beriet das ZK der KPdSU über die Tagesordnung des heute beginnenden Kongresses der Volksdeputierten, der über das heftig umstrittene Amt eines Präsidenten der UdSSR abstimmen soll.
Der Vorsitzende der Volksfront Sajudis, Vytautas Landsbergis, erhielt mit 91 Stimmen die absolute Mehrheit. Sein Gegenkandidat, der Vorsitzende der litauischen Kommunisten, der ebenfalls für die Unabhängigkeit eintretende Algirdas Brasauskas kam lediglich auf 38 von 141 möglichen Stimmen.
Offensichtlich haben sich die litauischen Abgeordneten durch die Warnungen aus Moskau nicht in ihrem Abstimmungsverhalten beeindrucken lassen. „Wir haben schon lange gewußt, worauf wir zugehen, und dieser letzte Schritt birgt keinerlei Überraschungen mehr. Hier werden nur die institutionellen Konsequenzen daraus gezogen, daß wir am 7. Februar den Stalin-Hitler-Pakt für ungültig erklärt haben“, erklärte Romanenkov, Chefredakteur der 'Soglasie‘ gegenüber der taz. Die litauischen Deputierten wollen auf dem heute beginnenden Kongress der Volksdeputierten, dem höchsten Verfassungsorgan, in Moskau anwesend sein, um ihre Souveränitätsdeklaration einzubringen. Fortsetzung auf Seite 2
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Ansonsten beabsichtigen sie, sich in allen Fragen der Stimme zu enthalten, auch bei der Abstimmung über die Einführung eines sowjetischen Staatspräsidentenamtes: „Da mitzustimmen wäre ja Einmischung in die Angelegenheiten eines fremden Staates“, erklärte ein Mitarbeiter des Zentralkomitees der litauischen Kommunistischen Partei, der anonym bleiben wollte. Und er präzisierte weiter: Von Austritt aus der Sowjetunion, „wie es im Westen heißt, kann nicht die Rede sein, denn
wir sind in diese ja auch nie eingetreten, wir bekräftigen lediglich unsere im Jahre 1918 errichtete staatliche Souveränität“.
Wie die Führung in Moskau auf die Souveränitätserklärung reagieren wird, zeichnet sich nur in Umrissen ab. Algirdas Brasauskas wurde von Michail Gorbatschow erst vor einigen Tagen eine harte Rechnung präsentiert: Neben 20 Milliarden DM Schadensersatz für die Investitionen in die Industrie müsse Litauen in Zukunft all seine Handelsbeziehungen mit der UdSSR in konvertierbaren Währungen abwickeln und seinen Anteil an den Auslandsschulden der UdSSR allein tragen. Ungeklärt sei
auch die Zugehörigkeit des Gebietes um die Stadt Klaipeda, die nach dem Kriege unter der Hand von Weißrußland abgekoppelt und an Litauen angeschlossen worden sei.
Die Litauer ließen sich bisher jedoch nicht ins Bockshorn jagen und machten die Gegenrechnung auf: die sogenannte „Entwicklung“ des heute hochindustrialisierten Litauens, in dem nach dem Zweiten Weltkrieg noch 74 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiteten, habe der eigenen Umwelt schier unbezahlbare Schäden zugefügt. Mit Vorliebe habe Moskau Produktionen mit hochschädlichen Abfällen aus Rußland in die „Ostseekolo
nien“ verlagert. Von unerwarteter Seite kam am Sonnabend Zuspruch für Litauen: In der ukrainischen Hauptstadt Kiew erklärten Zehntausende von Demonstranten bei einer Kundgebung der nationalen Bewegung „Ruch“ in einer Resolution: die Ukraine als vorläufiger Teil der Sowjetunion wolle von den Litauern keine einzige Kopeke an sogenannten „Rückzahlungen“ annehmen. Die Demonstranten erklärten sich mit der Parole „Nein zum Sowjetimperium“ solidarisch.
All die genannten Indizien weisen darauf hin, daß zwischen den baltischen Staaten und Moskau eine Vorverhandlungsphase über die gegen
seitigen Beziehungen im neuen nationalen Rahmen beginnt, wobei man erst einmal die gegenseitigen Ausgangsforderungen hochschraubt. Litauen ist zwar von Öl und Kohle aus anderen Teilen der UdSSR abhängig, ganz Nordrußland jedoch wird mit litauischen Fleisch- und Milchprodukten ernährt, so daß die wirtschaftliche Konfrontation beiden Seiten schaden würde.
Auch in Georgien, der Ukraine und in Weißrußland steht die Öffentlichkeit auf seiten Litauens und kritisiert das Amt des Staatspräsidenten. In Kiew und Leningrad forderten Zehntausende den Kongreß der
Volksdeputierten auf, keiner Stärkung des Präsidentenamtes zuzustimmen. Denn dieses führe nicht zu einer Demokratisierung der Gesellschaft.
Am Sonnabend verurteilte der Oberste Sowjet der Kaukasusrepublik Georgien in einer außerordentlichen Sitzung die Einrichtung eines Präsidentenamtes. Ein solches Amt bedeute eine Einschränkung der eigenen staatlichen Souveränität. Ein neu gewählter Präsident könnte in einzelnen Sowjetrepubliken ohne Zustimmung der örtlichen Behörden den Ausnahmezustand ausrufen und sogar einen Statthalter einsetzen.
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