Litauisches Parlament leitet den

■ Doch auch nach der Unabhängigkeitserklärung Litauens hält Gorbatschow noch einen Trumpf in der Hand:

Wer hatte noch vor zwei Jahren, als sich die litauische Volksfront bildete, daran gedacht, daß die Unabhängigkeit der baltischen Republik von der Sowjetunion schon so schnell kommen würde? Nun ist eine Entscheidung gefallen, die auch für andere Republiken des Imperiums Signalwirkung haben könnte: Schon werden aus Lettland und Estland ähnliche Schritte erwartet. Und auch in Georgien hat die Diskussion über die Unabhängigkeit begonnen. Noch versucht Michail Gorbatschow den Zerfall der Sowjetunion aufzuhalten: Als mit großen Vollmachten ausgestatteter Präsident könnte er den Unabhängigkeitsbestrebungen enge Grenzen setzen. Doch auch in der russischen Gesellschaft besinnt man sich zunehmend auf sich selbst. Die Auflösung des letzten Kolonialreiches der Erde hat unweigerlich begonnen.

Als „alarmierend“ bezeichnete Michail Gorbatschow zu Beginn der gestrigen Sitzung des „Kongresses der Volksdeputierten“ die Nachrichten aus Litauen. Im Präsidium, in dem nach der recht jungen einjährigen Tradition dieser verfassungsgebenden Versammlung die Vorsitzenden der Obersten Sowjets aller Republiken vertreten sein sollen, fehlte der litauische Vertreter. „Die Beschlüsse, die dort gefaßt werden, betreffen nicht nur die grundsätzliche Interessen und das Schicksal der Republik, sondern auch unser Volk insgesamt und unseren gesamten Staat“, sagte er. Die Feststellung trug den Anstrich einer beunruhigenden Neuigkeit aus einer fernen Ecke des Römischen Imperiums als sei die Entwicklung in Litauen nicht Tage voraus bekannt gewesen und als hielten sich dort nicht Beobachter aus allen Teilen der Welt auf.

Abgesehen von diesem emotionalen Höhepunkt verging der erste Vormittag der Mammutkonstituante mit Formalitäten. Die Tagesordnung enthielt drei Punkte: Erteilung der Entscheidungsvollmacht an die seit der letzten Sitzungsperiode neu gewählten Volksdeputierten; Änderung und Ergänzung der Verfassung der UdSSR im Hinblick auf den Posten eines Präsidenten der UdSSR; und die Wahl des Präsidenten der UdSSR. In Abweichung vom ursprünglichen Reglement ist jetzt eine Dauer des Kongresses für drei Tage vorgesehen.

In seinem Hauptreferat legte der Stellvertretende Vorsitzende des obersten Sowjet, Lukjanov, noch einmal die von offizieller Seite genannten Gründe für ein Präsidentenamt in der UdSSR dar: der Legislative des Obersten Sowjet stehe - wie sich bei der praktischen Verwirklichung der Gesetze gezeigt habe - eine insgesamt zu schwache Exekutive gegenüber. Die führende Rolle der Partei, die mit diesem Kongreß abgeschaftt werde, hinterlasse ein Machtvakuum, und ein starker Präsident sei als Schiedsrichter in der Frage der Souveränität der Unionsrepubliken zur Absicherung eines neuen Unionsvertrages und zur Wahrung der Rechte der Republiken unumgänglich. Dem geplanten Gesetz zufolge kann der Präsident in einzelnen Teilen des Landes den Ausnahmezustand verhängen und, im Falle eines Angriffes auf das Territorium der UdSSR, den Kriegszustand erklären. Gegen Entscheidungen des Obersten Sowjets kann der Präsident ein Veto einlegen und - falls dies vom Parlament mit Zweidrittelmehrheit abgelehnt wird zu seiner Unterstützung den Kongreß der Volksdeputierten einberufen.

Außerordentliche

Vollmachten „gefährlich“

Im Namen der liberalen Überregionalen Deputiertengruppe stellte der Historiker Jurij Affanassjew nach der Eröffnung der Diskussion die Frage, ob hier nicht die Präsidentschaft als mögliche Folge mit ihren wünschenswerten konstitutionellen Ursachen verwechselt werde: „Diese Frage, die schon an sich nicht einfach ist, entscheiden wir zudem in einer äußerst angespannten Situation“, meinte Affanassjew, während atemlose Stille im Saal herrschte. „Und dabei entscheidet sich die Frage - und ich bin verpflichtet, auch darüber zu sprechen -, außerordentliche Vollmachten einem ganz bestimmten Menschen zu übertragen, Michail Sergejevitsch Gorbatschow. Und wir müssen prüfen, ob wir das alle nötig haben, ob die Perestroika das nötig hat und ob der Initiator der Perestroika selbst dies wirklich braucht. Dies sind die zwei Seiten einer Frage, und erschwerend kommt hinzu, daß diese Frage mit zu großer Hast gelöst werden soll.“

Die überregionale Deputiertengruppe, so Affanassjew, sei gegen die Einführung eines solchen Postens auf dem gegenwärtigen Kongreß der Volksdeputierten und außerdem entschieden gegen die Wahl eines Präsidenten auf dieser Sitzung. Als unabdingbare konstitutionelle Institutionen, ohne die ein Präsidentenamt gefährlich sei, zählte Affanassjew auf: einen neuen Unionsvertrag souveräner Staaten, die aus eigener Initiative einen Teil ihrer Rechte einer Unionsregierung abtreten; die Schaffung eines mächtigen Obersten Sowjet, der ohne Einschränkung durch irgendeinen Kongreß der Volksdeputierten eine mächtige Legislative verkörpert; und schließlich die Wahl eines Präsidenten, nachdem ein Unionsvertrag geschlossen worden ist, durch allgemeine und gleiche Wahlen, über deren Form im einzelnen noch zu diskutieren wäre. Nicht zuletzt sei ein Mehrparteiensystem Vorbedingung, in dem die Wahl des Präsidenten den Ausgang eines normalen politischen Wettstreites bezeichnet. Mit anderen Worten, außer dem Gegengewicht des Parlamentes bedarf ein Präsidentenamt auch des Gegengewichts einer organisierten politischen Opposition. Dazu nannte Affanassjew noch die Pressefreiheit, „die es ja bekanntermaßen bei uns bis heute nicht gibt“.

Diese erste prinzipiell oppositionelle Rede im sowjetischen Parlament wurde an dieser Stelle erstmals durch Proteste unterbrochen. Affanassjew nannte die in letzter Zeit von Michail Gorbatschow praktizierte Führungspolitik fehlerhaft und gefährlich und bezeichnete sie als Ursache der angespannten Lage im Lande. „Der Grund liegt nicht in einem Mangel an Macht der gegenwärtigen Führung, sondern in einem Mangel an Vertrauen zu ihr. Die Frage der Präsidentschaft entscheidet sich in einer Situation, in der die Politik der gegenwärtigen Führung eine entscheidende Niederlage erlitten hat. In dieser Situation setzt man wieder auf Gewaltanwendung und auf Ausnahmezustände. Wenn der Führer und Initiator unseres Staates wirklich etwas begründet hatte, dann war es eine Tradition der Massengewalt und des Terrors.“ Auf Zwischenrufe: „Es reicht!“ antwortete der Kongreßvorsitzende mit der Aufforderung an Affanassjew, seinen Beitrag abzubrechen. Gorbatschow, der sonst mit der Begrenzung oder Verlängerung der Redebeiträge recht großzügig verfährt, sah sich außerstande, dem Historiker auch nur noch eine weitere Minute Redezeit zuzubilligen.

Bei Redaktionsschluß war es den wenigen, lediglich als Beobachter anwesenden litauischen und estnischen Delegierten noch nicht gelungen, dem Kongreß - wie geplant - die Souveränitätsresolutionen ihrer Volksvertretungen vorzutragen. Hingegen zeigte sich eine gewisse „Drittwirkung“ des baltischen Beispiels bei weniger radikalen Deputierten aus anderen Republiken.

Barbara Kerneck, Moskau