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„Streng geheim! Information über die weitere Formierung oppositioneller Bewegungen...“

(...) 1. Am 14.Dezember 1989 trafen sich in der Elisabethkirchengemeinde Berlin trotz eingeleiteter vielfältiger Maßnahmen zur vorbeugenden Verhinderung des geplanten Treffens insgesamt 98 Erstunterzeichner des sogenannten Gründungsaufrufes des „NEUEN FORUMS“ sowie als „Kontaktadressen“ fungierende Personen aus der Hauptstadt der DDR und mehreren Bezirken, um den bisher erreichten Entwicklungsstand einzuschätzen und Vorstellungen zum weiteren Ausbau der Strukturen des „NEUEN FORUMS“ zu erörtern. (...)

(...) Vorliegende Erkenntnisse bestätigen, daß die kirchenleitenden Gremien bzw. Personen der evangelischen Kirchen in der DDR mehrheitlich die Aktivitäten des „NEUEN FORUMS“ sowie anderer oppositioneller Sammlungsbewegungen dulden, fördern bzw. unterstützen.

In Beschlüssen von einzelnen Landeskirchenleitungen bzw. Weisungscharakter tragenden Rundschreiben an Kirchengemeinden wird die Möglichkeit der Inanspruchnahme kirchlicher Räumlichkeiten durch „Gruppen und Einzelpersonen“ offiziell bestätigt. Die Kirchenleitung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Thüringen räumt darüber hinaus „politischen Gruppen, die sich als unabhängige Gruppen verstehen“, das Recht ein, kirchliche Räumlichkeiten (außer Kirchen) zu mieten (Beschluß vom 9.Oktober 1989).

Die Mitwirkung von im kirchlichen Bereich tätigen Personen in „Sammlungsbewegungen“ und personellen Zusammenschlüssen wird von den Kirchenleitungen mit dem Argument der „Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechtsausübung“ gerechtfertigt.

Zahlreiche kirchliche Amtsträger und Mitarbeiter in kirchlichen Einrichtungen, darunter solche, die bereits in zurückliegender Zeit mit Aktivitäten gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung in Erscheinung getreten sind, aber auch bisher noch nicht in das Blickfeld geratene Personen aus dem kirchlichen Bereich haben sich an die Spitze der oppositionellen Bewegungen gestellt, zählen zu deren Organisatoren und Mitbegründern.

Sie haben maßgeblichen Anteil an der Propagierung der Inhalte und Ziele der oppositionellen Bewegungen, insbesondere des „NEUEN FORUMS“, und an der Gewinnung von Mitgliedern und Sympathisanten, u.a. durch

-die Organisierung und Gestaltung vielfältiger Veranstaltungen in Kirchen, wie z.B. Friedens- und Informationsandachten, Fürbittgottesdienste, Montags- bzw. Nachtgebete, Mahnwachen, Diskussionsforen u.a. mit Teilnehmerzahlen bis zu 4.000 Personen (derartige Zusammenkünfte tragen ausschließlich den Charakter politischer Versammlungen),

-die Durchführung von Unterschriftensammlungen,

-die Bereitstellung kircheneigener Druck- und Vervielfältigungstechnik zur massenhaften Vervielfältigung von Materialien der „Opposition“,

-die Bereitstellung von kirchlichen Räumlichkeiten für die Einrichtung von Kontaktstellen, Durchführung von „Sprechstunden“ des „NEUEN FORUMS“.

Darüber hinaus treten kirchliche Amtsträger als Mitbegründer von sogenannten Bezirks-, Kreis- und Ortsgruppen bzw. als Kontaktadressen des „NEUEN FORUMS“ in Erscheinung.

Eine Anzahl von Kirchen, besonders in den Bereichen der Evangelischen Landeskirchen Sachsens, in Thüringen und Berlin-Brandenburg sowie in der Kirchenprovinz Sachsen entwickelten sich zu Sammelbecken feindlicher, oppositioneller Kräfte.

Sie waren und sind wiederholt Ausgangspunkt für im Anschluß an Veranstaltungen durchgeführte Zusammenrottungen, andere öffentlichkeitswirksame provokatorisch-demonstrative Aktionen und Demonstrationen.

Auf realistischen Positionen stehende kirchliche Kräfte treten kaum in Erscheinung. Vereinzelt von ihnen unternommene Versuche, massive Angriffe reaktionärer kirchlicher u.a. feindlicher, oppositioneller Kräfte gegen den Staat auf Veranstaltungen in Kirchen zurückzuweisen oder abzuschwächen, bleiben in der Regel ohne Wirkung.

Erkennbare Bestrebungen kirchenleitender Personen, darunter auch Bischöfe (LEICH, HEMPEL, DEMKE), mäßigend und beruhigend auf Veranstaltungsteilnehmer und Demonstranten einzuwirken (auch Appelle an Kirchengemeinden), sie von Konfrontationshandlungen gegen die Staatsmacht abzubringen und Gewaltlosigkeit zu propagieren, führten zeitweilig zu positiven Ergebnissen.

Dagegen erreichten die gegenüber vorgenannten Personenkreisen angesprochenen staatlichen Erwartungshaltungen hinsichtlich der Unterbindung des politischen Mißbrauchs der Kirchen und der in ausschließlich politische Versammlungen umfunktionierten Zusammenkünfte in kirchlichen Räumen sowie die Forderungen nach Disziplinierung solcher im kirchlichen Bereich tätiger Personen, die aktiv gegen die sozialistische Staatsmacht auftreten und tätig werden, wenig Wirksamkeit. Sie wurden seitens der kirchlichen Gesprächspartner vielfach mit vagen Versprechen und Rechtfertigungen abgetan oder bagatellisiert.

Mehrere kirchliche Amtsträger, die fest in die Arbeit des „NEUEN FORUMS“ u.a. oppositioneller Sammlungsbewegungen integriert sind, schätzen intern ein, kaum noch Zeit für die Ausübung ihrer seelsorgerischen Tätigkeit zu haben. Da dies eindeutig im Widerspruch zu Festlegungen der Landeskirchenleitungen steht, in denen gefordert wird, die „Verhältnismäßigkeit des Aufwandes an Zeit und Kraft für politische Aktivitäten zum eigentlichen geistlichen Auftrag zu wahren“, könnten derartige Feststellungen bei Gesprächen zuständiger staatlicher Organe mit kirchenleitenden Personen offensiv genutzt werden. (...)

Erich Mielk

Quelle: Streng geheim! Information über die weitere Formierung des „„NEUEN FORUMS„“ und weiterer oppositioneller Bewegungen. Ministerium für Staatssicherheit, 17.10.89

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